Die Wildrose
Abgeordneten.
»Sie haben es wieder getan, Joe«, flüsterte ihm Lewis Mead, ein Labour-Abgeordneter für Blackheath, zu. »Können Sie nicht einmal den Weg des geringsten Widerstandes gehen? Und zur Abwechslung mal eine unstrittige Sache vorschlagen? Neue Blumenkästen für die Hackney Downs. Mehr Bänke für London Fields?«
Joe lachte. Er lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück, wohl wissend, dass es einige Minuten dauern würde, bis der Speaker wieder Ruhe hergestellt hätte. In der Zwischenzeit sah er sich im Raum um, zu der hohen Decke hinauf, auf die schönen gotischen Fensterbögen und die vertäfelten Galerien. All dies, gemeinsam mit den hohen, bleiverglasten Fenstern und den langen Bankreihen, gab ihm immer das Gefühl, in einer Kathedrale zu sein. Das war eine Assoziation, die ihm gefiel, denn in ganz England gab es keinen Ort, der ihm ehrwürdiger erschien als das Unterhaus, und keine Berufung heiliger, als Mitglied des Parlaments zu sein.
Politik war Joes Religion, dieser Raum seine Kanzel, und nur Minuten zuvor hatte er mit dem Eifer und der Eloquenz eines feurigen Predigers gesprochen. Er wünschte nur, er hätte auch Pech und Schwefel schleudern können, weil er fand, dass dies eigentlich nötig gewesen wäre.
»Das ist meine letzte Verwarnung«, brüllte der Speaker. »Ich bitte die ehrenwerten Gentlemen, sich sofort wieder zu setzen! Oder ich lasse Sie hinausschaffen!«
Einer nach dem anderen – Liberale, Konservative und Labour-Abgeordnete – nahm schließlich Platz. Churchill blickte finster drein, bemerkte Joe. Henderson und MacDonald strahlten. Asquith rieb sich die Stirn.
Joe hatte den heutigen Sitzungstag mit der Vorlage seines neuen Erziehungsgesetzes eröffnet. Darin forderte er den Ausbau der vorhandenen Schulen, die Errichtung siebzig neuer, die Anhebung des Abgangsalters und die Einrichtung von Bildungsprogrammen in zehn Gefängnissen Ihrer Majestät. Was keineswegs einmütigen Beifall fand.
»Das ist lächerlich!«, schrie Sir Charles Mozier, der Besitzer von fünf Kleiderfabriken, als Joe geendet hatte. »Die Regierung kann sich dieses Gesetz niemals leisten. Es treibt den Staat in den Bankrott.«
»Die Regierung kann es sich leisten. Die Frage ist – kann es das Kapital?«, schoss Joe zurück. »Ausgebildete Kinder werden kluge Kinder, und kluge Kinder stellen Fragen. Wir können doch nicht zulassen, dass die Näherin plötzlich fragt: ›Warum bekomme ich fürs Nähen einer Bluse nur sieben Pence, wenn Sir Charles sie für zwei Pfund verkauft?‹ Sie könnten ja auf die Idee kommen zu streiken. Und dann wären Sie es, Sir Charles, der bankrottgeht, nicht der Staat.«
Das hatte die Hälfte der Abgeordneten zu Proteststürmen veranlasst. Was danach folgte, brachte das Fass zum Überlaufen.
»Vielleicht sollten wir auch verfügen, dass in Gefängnissen Tee und Kuchen serviert werden«, rief John Arthur, dessen walisische Kohleminen lukrative Lieferverträge mit Gefängnissen und Erziehungsanstalten geschlossen hatten. »Wir können Sträflingen ja auch Porzellankannen auf Silbertabletts bringen lassen! Sagen Sie mir, Sir, haben Sie eine Ahnung, was so ein Programm kosten würde?«
»Nichts!«, antwortete Joe.
»Wie bitte?«
»Ich sagte, nichts . Tatsächlich wird es dem Staat Geld sparen. Bilden Sie jeden Mann in Wandsworth und jede Frau in Holloway aus. Geben Sie ihnen die Chance, die eine Ausbildung eröffnet, helfen Sie ihnen, sich aus der Armut zu befreien, dann können Sie diese Vororte der Hölle für immer schließen«, hatte Joe argumentiert.
Jetzt blickte er in die Gesichter, die er so gut kannte, die Gesichter von Freunden und Gegnern. Er sah zur Besuchergalerie hinauf, wo seine Mutter Rose, seine Frau Fiona und seine Tochter Katie saßen. Bei ihrem Anblick dachte er, wie leicht es hätte anders kommen können und sie nicht hier sitzen würden. Sondern in einer feuchten, kalten Kammer im East End, ohne ausreichendes Essen, ohne genügend Kohle für den Ofen und ohne Geld für die Miete. Einem solchen Leben waren sie entkommen. Aber so viele nicht. Er dachte an all diejenigen, die immer noch für ein paar Pennys schufteten und immer noch hungerten und froren. Dann ergriff er erneut das Wort.
»Premierminister, Mr Speaker, verehrte Kollegen, es ist an der Zeit. An der Zeit, jedes Kind in Großbritannien gemäß seinen Fähigkeiten auszubilden. An der Zeit, jedes Mädchen und jeden Jungen aus den Hinterhöfen, aus Verelendung und Hoffnungslosigkeit zu befreien.
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