Die Wolkenkinder
Er setzte zu einem Protest an: „Ich bin kein Knecht! Ich bin eigentlich ...“
Der Bedienstete des Grafens schaute genervt gen Himmel, setzte ein ärgerliches Gesicht auf und unterbrach Emmerich streng, wobei er ihn mit dem Handrücken vom Hof wedelte: „Entferne Er sich! Husch, husch!“
Emmerich grummelte mit eingezogenem Kopf vor sich hin, gab den Pferden mit dem Zügel einen schnalzenden Schlag auf die Rücken und zuckelte mit seiner Fuhre Richtung Seitenausgang.
Auf einen theatralischen Wink des Dieners hin sprangen ein paar Burschen in Lederwamsen herbei und übernahmen die Pferde der Jungs.
„Folgt mir!“ forderte der Diener sie mit nasalem Ton auf und schritt durch die Vorhalle in einen hohen, mit grauem Granit getäfelten Saal, von dem aus mehrere breitangelegte Treppenanlagen in die höheren Gemächer führten. Eine Etage höher durchschritten sie lange, hell gekalkte Flure, deren untere Hälfte blau gekachelt war. Sie passierten Tür um Tür, sahen Gobelins, alte Gemälde und einige Skulpturen, bevor sie am Ende eines besonders breiten Ganges eine herrlich geschnitzte Tür in einem bombastischen Holzrahmen sahen, vor dem eine Wache Stellung genommen hatte.
„Wartet!“ gab der wortkarge Diener knapp und klar von sich und verschwand durch diese Tür.
Schon nach wenigen Sekunden wurden die Flügel der schweren Holztür nach innen aufgezogen und eine glitzernde Welt aus Gold und Glas schimmerte den jungen Freunden in die baff erstaunten Gesichter.
„Tretet ein!“ war der Diener jetzt zu hören.
Den Jungs kam die Sache reichlich merkwürdig vor, waren sie doch vor kurzem noch in den Salzkuhlen gelegen und wurden jetzt dem Grafen vorgelassen. Scheu, fast ängstlich betraten sie den reich geschmückten Saal, dessen Wände mit golddurchwirkter Seide verkleidet waren und von dessen Holzkassetten-Decke schwerste Kristalllüster baumelten. Am Ende des Saales, zwischen zwei Türen, deren klotzige Rahmen glänzend vergoldet waren, standen drei wertvolle Sessel, wovon der Mittlere deutlich größer war und, im Gegensatz zu den anderen, Lehnen besaß.
Mit den Worten: „Die gräfliche Familie wird sogleich erscheinen!“ ließ der schmucke Diener sie im weiten Raum allein zurück. Beklommen schauten die Jungs sich um: Der Parkettboden, die Ölgemälde, die kunstvollen Teppiche – alles war so unglaublich erlesen, so sagenhaft wertvoll!
„Zwick mich!“ raunte Dietbert zu Randolf. „Ich glaube, ich spinne!“
„Da bist du nicht allein! So was habe ich in meinem Leben auch noch nicht gesehen!“ staunte Randolf.
Lothar war weniger beeindruckt, musste aber zugeben: „Noch eine Klasse besser, als ich es von zu Hause aus gewohnt war!“
Weitere Zeit verstrich, bevor endlich ein Diener mit ähnlicher Kleidung wie der erste eintrat, einen riesigen Knaufstock dreifach auf das Parkett stieß und ebenfalls nasal verkündete: „Die gräfliche Familie!“
Zuerst betrat die Gräfin in einem Kleid aus lavendelfarbener Seide mit tief ausgeschnittenem Mieder den Raum, ihre perlenbesetzte Hochfrisur war frisch gepudert und auf der Wange trug sie das obligatorische Schönheitspflästerchen. Auch ein venezianischer Fächer durfte der modebewussten Frau von Welt auf keinen Fall fehlen!
Als zweites betrat der Graf in einem himmelblauen Samtmantel den Saal, der ihm bis zu den Knien reichte; als Kopfbedeckung hatte er einen kunstvoll in Falten geschlagenen Schlapphut mit Pfauen und Straußenfedern gewählt. Sein üppig wuchernder, schneeweißer Vollbart und seine enorme Körperfülle unterstrichen seine stattliche Erscheinung.
Mit etwas Abstand folgte die halbwüchsige Tochter des Hauses in einer wundervollen Robe aus grauem Satin mit weißen Schleifchen. Mit ihren tiefschwarzen, ellenlangen Locken, ihren hellbraunen Augen, die gelbe Sprenkler blitzen ließen und ihrem dunkelroten Schmollmund hatte sie Randolfs Herz in der ersten Sekunde erobert.
Wie von Sinnen starrte er dieses Wesen, das offensichtlich gerade vom Himmel gefallen war, sprachlos an. Die Welt um ihn exsistierte überhaupt nicht mehr, er war gefangen von den dichten Wimpern, dem weichen, zarten Schwung ihrer Lippen, von ihren anmutigen, schwebenden Bewegungen. Wie viel Zeit er so versteinert, mit Kuhaugen glotzend in der Gegend herumgestanden hatte, konnte er nicht sagen, als sein Gehirn aber wieder zu arbeiten begann und er die restliche Welt ebenfalls wieder
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