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Die Würde der Toten (German Edition)

Die Würde der Toten (German Edition)

Titel: Die Würde der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Pons
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geben zu trauern.« Henry sprach leise, aber mit fester Stimme. Dass er Mitleid nicht ertragen konnte, war ihr längst klar. Aber seine beharrliche Weigerung, sich mit den eigenen Gefühlen zu befassen, befremdete sie. »Lass es zu. Sie war schließlich deine Mutter.«
    Er schüttelte den Kopf. Sie missdeutete seine Reaktion, aber er hatte nicht vor, ihr den Fehler zu erklären. Da war keine Trauer. Nicht um diese Frau. Kein Schmerz über den Verlust. Nicht einmal Leere. Sie war als Mutter schon vor Jahren aus seinem Bewusstsein verschwunden. Sie war nur Elisabeth, die anrief, jammerte und Vorwürfe machte, ihn davonjagte und sich dann wieder in sein Leben drängte.
    »Weiß dein Vater inzwischen Bescheid?«
    Wieder schüttelte er den Kopf.
    »Du musst ihn anrufen.«
    Er starrte in Richtung des schmalen Oberlichts, durch das er nur erkennen konnte, dass es draußen langsam dunkel wurde. »Nein.«
    »Hilf mir noch mit dem Sargdeckel«, bat sie beiläufig, und diesmal griff Adrian ohne Zögern zu.
    Henry öffnete den Kühlraum, löste die Bremse des Scherenwagens und schob ihn hinein. Adrian blieb fröstelnd im Türrahmen stehen.
    »Genug Tote für heute!« Ungeduldig zerrte er die Gummihandschuhe von den Fingern, stapfte mit großen Schritten zum Mülleimer und versenkte sie mit Abscheu.
    »Und, habe ich den Leichentest bestanden? Bist du nun zufrieden mit mir?« Sein Sarkasmus war nicht zu überhören.
    »Danke für deine Hilfe.« Sie hatte nicht vor, sich zu rechtfertigen. Er war es schließlich, der hier grundlos aufgetaucht war. »Ich bin gleich fertig für heute.«
    »Gut. Dann können wir uns jetzt den Lebenden zuwenden?«
    »Klar.« Herausfordernd sah sie ihm direkt ins Gesicht. »Dein Vater – wie ist sein Name?«
    Er biss die Zähne aufeinander und zischte ärgerlich: »Hör auf damit! Ich will nicht, dass du ihn informierst.«
    Unbeeindruckt räumte sie ihr Handwerkszeug beiseite.
    »Das habe ich gar nicht vor. Ich will nur seinen Namen von dir hören.«
    Jahrelang hatte er selbst den Namen wissen wollen. Doch Elisabeth hatte geschwiegen. Sogar in seiner Geburtsurkunde fehlte die Angabe. Kindsvater unbekannt. Er hatte beschlossen, die Existenz des Mannes zu ignorieren. Bis dieser sich durch Henrys Fragen wieder in sein Bewusstsein geschlichen hatte. Und mit dem Adressbuch, aus Elisabeths Wohnung, war er unwiderruflich wieder in sein Leben eingedrungen. Da gab es dutzende Eintragungen und dazwischen dieser eine Name, zu dem Elisabeth weder Telefonnummer noch Adresse notiert hatte. Adrian konnte nicht erklären, weshalb er wusste, dass dieser Mann sein Vater war. Aber er hatte nicht den geringsten Zweifel.
    Henry wartete und schaute mit nach vorn gerecktem Kinn zu ihm auf. Gegen diesen Blick war er machtlos.
    »Viktor Bertram.« Der Name schwebte durch den Raum. Henry drehte den Kopf beiseite, so dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte, und lächelte. Sie hielt nicht viel von Esoterik, aber sie glaubte sehr wohl an die Magie der Worte. Und ein Name war ein mächtiges Wort. Adrian würde seinen Vater suchen. Er wusste es nur noch nicht.

* * *

    In der Küche brannte Licht. Durch die geöffnete Tür sah Eberhard Moosbacher seine Frau am Tisch sitzen. Sie putzte Gemüse. Seit Jürgen nicht mehr da war, war sie immer stiller geworden. Er wusste, dass sie täglich hoffte, Post von ihm im Briefkasten zu fin den. Bei jedem Telefonklingeln huschte ein Leuchten über ihr Gesicht, das verschwand wie Frühnebel in der Sonne, sobald der Anrufer seinen Namen nannte. Die Sorge um ihren Sohn fraß An ne liese auf und Eberhard bemühte sich, weiteren Kummer von ihr fernzuhalten. Trotzdem hatte er ihre prekäre finanzielle Lage nicht vollständig vor ihr verbergen können. Das Wunder, auf das er gehofft hatte, war ausgeblieben. Die Bank war nicht bereit gewesen, ihm entgegenzukommen.
    Doch heute hatte er einen Weg gefunden, das Problem zu lösen. Einer von Jürgens Gläubigern erwies sich unerwartet als sehr kulant. Ausgerechnet der, vor dessen Zorn ihn sein merkwürdiger Besucher so eindringlich gewarnt hatte. Alfred Westermann erklärte sich bereit, mit dem Jungen Geduld zu zeigen und auch bei der Bewältigung der weiteren geschäftlichen Verbindlichkeiten behilflich zu sein.
    Wo kämen wir denn da hin, wenn das Engagement eines lie benden Vaters nicht mehr gewürdigt würde? Seine Worte klangen Eberhard Moosbacher noch in den Ohren. Ein Unternehmensberater mit Herz, Weitblick und Geschäftssinn, hatte er gedacht und

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