Die Würde der Toten (German Edition)
vermischten sich Gerüche aus unterschiedlichsten Quellen. Das schwere Parfüm einer blonden Frau, die ihn streifte, als sie die langen Haare über der Schulter glatt strich. Der Alkoholdunst aus Gläsern, Pfützen, Mündern. Schweiß, von dem er nicht sagen konnte, ob es sein ei gener war, ausgelöst durch die Hitze der dicht stehenden Men schen, durch Spannung oder einfach Angst. Und das Blut, das di rekt vor seinen Füßen aufgewischt wurde.
Wenn er sich die hier eingesetzten Kampftechniken vergegenwärtigte, waren die Spuren auf László Szebenys Körper kein Rätsel mehr. Ob ihn letztlich innere Blutungen oder ein missglückter Tritt gegen den Hals getötet hatten – beides war denkbar und beides wurde an diesem Ort zweifellos in Kauf genommen.
Der erste Champion des Abends stand für einen weiteren Einsatz bereit. Sein nackter Oberkörper glänzte im Licht der Scheinwerfer. Außer einer leichten Schwellung unterhalb des linken Auges war er unversehrt geblieben. Siegessicher reckte er den Brustkorb vor und stieß ein tiefes Brüllen aus, während seine Fäuste mit kontrollierten Schlägen die Luft zerteilten.
Von der anderen Seite kletterte der zugedröhnte Hänfling durch die Seile. Ein großes Pflaster verdeckte sein rechtes Ohr. Die Menge johlte. Wenn das kein Scherz war, dann gab es hier gleich ein unappetitliches Gemetzel. Der Kick, den Adrian zu Anfang empfunden hatte, verpuffte. Der Bursche würde in kürzester Zeit zu Hackfleisch verarbeitet werden. Adrians Magen zog sich zusammen. Das wollte er nicht sehen.
Er ignorierte die ungehaltenen Flüche, die ihn begleiteten, und zwängte sich in Gegenrichtung zum Ausgang. Vor dem Büro lauerte einer der beiden Kolosse. Unwillkürlich zog Adrian den Kopf ein und versuchte, im Schatten einer Säule in Deckung zu gehen. Wo war der andere? Der Mann mit den Lackschuhen sprach nun drinnen mit dem Buchmacher. Dieser Kerl konnte durchaus der Drahtzieher hinter den Kämpfen sein. Doch im Augenblick konnte Adrian hier nichts tun, außer sich zu verraten, wenn er ihn weiter anstarrte oder irgendjemandem Fragen stellte. Es war ratsam, schleunigst zu verschwinden.
Tag 15 – Montag
Quälend langsam war die Nacht vergangen. Träge schwarze Stunden voller Angst, gefüllt mit schrecklichen Befürchtungen und Brandgeruch. Das Messer gaukelte trügerische Sicherheit vor, und Mephistos Wärme spendete ihr einen Hauch von Trost. Einige wenige Male war Henry eingenickt, für Sekunden, dann wieder aufgeschreckt von jedem noch so kleinen Laut. Das alte Haus knackte, machte lebendige Geräusche, seufzte. Da waren Schritte im Hof, schlagende Autotüren, Stimmen. Sie traute sich nicht, ein Fenster zu öffnen, denn nicht nur ihr Kater war in der Lage, über den Balkon heraufzuklettern. Niemand sollte wissen, dass sie zu Hause war.
Der Beginn der Dämmerung trieb sie nach draußen. Lolek und Bolek waren nicht gekommen, sie zu holen, und sie schöpfte Hoffnung. Westermann konnte ihr nichts vorwerfen. Sie hatte getan, was er verlangt hatte. Alles. Dass die Leiche es nicht rechtzeitig in die Nachrichten geschafft hatte, war nicht ihr Fehler. Er musste das einsehen. Er musste. Und nachher würde er zu ihr kommen und sie aus seinem Dienst entlassen, und alles konnte wieder sein, wie es vorher war.
Ihre Zähne klapperten und ihr Unterkiefer fühlte sich so verkrampft an, dass sie kaum schlucken konnte, als sie den Hof des Bestattungsunternehmens überquerte.
Auf der Hintertreppe stand kein neues Päckchen. Henry atmete in hastigen Stößen. Die Tür zum Versorgungsraum war unverschlossen. Langsam drückte sie die Klinke herunter, trat ein, verharrte.
Frei. Nun war er frei.
Benommen ging sie die letzten Schritte auf Jürgen zu, schlang dann die Arme um ihn und schmiegte sich an seine Brust.
»Wohin geht das Leben, wenn es geht?«
Henry blinzelte, doch die Tränen ließen sich nicht vertreiben. Sie erkannte das Muster aus blauen Flecken.
»Wohin geht das Leben, wenn es geht, Jürgen? Das war die Ausgangsfrage, die allererste, die ich dir gestellt habe. Aber du hast sie mir nicht beantwortet, nie!«
Von oben aus dem Büro hörte sie Schritte.
»Du musst hier weg! Es ist nicht der richtige Moment für ein Wiedersehen mit deinen Eltern. Nicht so.«
Zärtlich streichelte sie seine Hand und dann den Verband über dem abgetrennten Ohr.
»Das verstehst du doch, oder? Ich war so blöd, Jürgen, und ich kann das nicht wiedergutmachen. Hätte ich dir doch bloß geglaubt, dieses eine
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