Die Zarin (German Edition)
ersten von vier Sommern voll Hagel, Eis und verheerenden Stürmen über. Aus dem Osten, von Samarkand her, zog eine Heuschreckenplage über das Land: Die Bestien fraßen an Stoppeln und noch stehendem Korn, was sie finden konnten. Waldbrände entstanden wie aus dem Nichts, fraßen sich in das Land und hinterließen tiefe Narben in den russischen Weiten. Auch die Tiere wußten nicht mehr, wie sie sich ernähren sollten. Die Dörfer wurden von Wölfen und Bären heimgesucht. Peter ließ die Woiwod zusammentreten: Die Dorfältesten sollten sich auf einen Herbst und einen Winter der strengen Planung und der genauen Teilung einstellen.
Aus verschiedenen Teilen des Landes kamen Nachrichten an den Hof, daß der Zarewitsch Alexej dort gesehen worden sei. Wo er ging, so hieß es, blühten bunte Blumen und sproß frisches Korn. Peter ließ den Leuten, die solcherlei Unsinn verbreiteten, die Knute geben. Peter raste vor Zorn, als er einen Brief des Abgesandten aus Hannover abfing: Seine Worte beschrieben die Lage in Peters Reich zu genau. »Der Zar handelt allein, und er steht allein. Ja, er hat Ungeheures in Rußland geschaffen – aber alles, was er mit seiner glorreichen Regierung aus dem Boden gestampft hat, wird nur durch grausamen Zwang und einen mürrischen Gehorsam am Leben erhalten. Das Volk hat nur eine Sorge: Wie den nächsten Tag überleben. Das Volk hat nur eine Hoffnung: Daß die Tage des Zaren gezählt sind und daß das Reich in seine alte Lebensweise zurückfindet. Die neuen Bräuche, Sitten, ja, selbst die Schulen und Wohlstand durch neuen Handel sind für die Mehrzahl der Russen ein Alptraum, aus dem sie nur hoffen, bald zu erwachen …«
Das Kind unter meinem Herzen konnte ein Kind des Friedens von Nystad werden: Zwischen Ende August und Mitte September des Jahres 1721 gelang es den Gesandten unter Baron Ostermann, den Frieden zu Land und zur See zwischen Rußland und Schweden auszuhandeln. Schweden gab darin jeden Anspruch auf Livland, Estland, Ingermanland und das Gebiet um Wiborg auf.
Als Peter nach den Verhandlungen Sankt Petersburg in den frühen Morgenstunden erreichte, kam er direkt in mein Schlafgemach gelaufen. Er weckte mich, indem er sich voll Freude auf mich warf. »Katerinuschka, wach auf! Wach auf! Weißt du, was geschehen ist?« rief er und sprang auf der Matratze auf und ab. Ich setzte mich auf und rieb mir schlaftrunken die Augen. Die Nächte waren nun schon dunkel, und ich konnte Peter mehr hören, als daß ich ihn sah. Meine Nase sog dennoch seinen Duft nach Aufregung, See und Wind, der in seinem Haar hing, ein, ebenso wie den süßen Schweiß des langen, peitschenden Rittes an seinem Leib. »Was denn, mein Liebster?« fragte ich zärtlich – so froh war ich darüber, daß er eine Nachricht wieder sogleich mit mir teilen wollte! Er griff meine Schultern und zog mich auf meine Knie, so daß ich neben ihm in den zerwühlten Laken saß.
»Hör doch …«, sagte er dann nur.
Ich lauschte mit ihm in die Stille der Nacht. Dann, mit einem Mal, begannen die ersten Glocken der Stadt zu läuten. Ihr Dröhnen zerriß den dunklen Himmel über Sankt Petersburg und tönte in meinem Herz wider. Peter umarmte mich so fest, daß ich fast aufschrie. »Das sind die Glocken des Friedens, altes Mädchen! So klingt der Friede von Nystad!«
Ich schluchzte unwillkürlich auf, so unglaublich schien mir die Nachricht nach den Jahren des Krieges, der mein Leben begleitet hatte.
»Der Friede!« schrie Peter und sprang mit einem Satz aus meinem Bett. Er lief zur Tür und riß sie auf. Der junge Soldat, der davor Wache hielt, sah benommen auf. Er wollte sich vor überraschter Ehrfurcht zu Boden werfen, als er Peter erkannte.
»Du! Gib mir dein Gewehr, dann kannst du dich noch immer hinknien! Das brauchst du sowieso nicht mehr, denn wir haben Frieden!« rief Peter und riß dem Soldaten die Waffe aus der Hand. Peter ließ die Tür offenstehen und lief ans Fenster. Einen Augenblick lang schien es, als würde er sich in den schweren Vorhängen verfangen. Ich mußte lachen, als ich seinen großen Körper sich hilflos unter dem Stoff bewegen sah, und kam ihm zu Hilfe. Gemeinsam lösten wir den Bleiverschluß an dem Rahmen und stießen das Fenster auf. Peter prüfte die Waffe, spannte sie und schoß damit in den samtblauen Himmel seiner Stadt. Der Schuß übertönte das Läuten der Glocken, und sofort liefen Menschen auf dem Kai vor dem Winterpalast zusammen. Sie sahen er schrocken nach oben. Peter schrie
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