Die Zarin (German Edition)
der anderen ernst in ihrem Liederbuch. Selbst sie konnte schon recht leidlich lesen. Ich konnte mittlerweile die meisten Lieder auswendig, so daß meine Unwissenheit nicht zu sehr auffiel. Johannes und Friedrich flüsterten und lachten miteinander. Ihre Stiefel glänzten, ihre Hosen lagen so eng an, daß man die Muskeln ihrer Beine sehen konnte, und ihr dunkles Haar war kurzgeschnitten. Auch sie beäugten natürlich die sauberen Bürgersfräulein. Für das kommende Frühjahr sollte sich Johannes in einem Handelskontor in Marienburg eine Stelle suchen. Dann konnte er auch daran denken, um eines der Mädchen zu freien und selbst eine Familie zu gründen.
Und unvermittelt, ganz ohne Vorwarnung, machte dieser Gedanke mich sehr unglücklich. Johannes, der das Haus verließ und ein anderes Mädchen heiratete, es liebte und ehrte! Das Gefühl traf mich um so stärker, als ich nicht im geringsten darauf vorbereitet war. Ich sah ihn scheu von der Seite an. Er spürte meinen Blick und drehte den Kopf zu mir: Er wollte wohl wie üblich einen Scherz machen. Aber die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. Unsere Blicke verfingen sich ineinander. Ich nahm die Gesichter um uns nur noch verschwommen wahr. Die Gerüche nach Tabak, Rauch, Riechwasser, Wachs, Stroh, Leder und auch nach den Menschen um uns vermischten sich. Der einsetzende Gesang drang nur noch wie von fern an mein Ohr. Meine freie Hand ruhte kraftlos auf der Kirchenbank. Johannes senkte wie unabsichtlich seinen Arm und schloß dann seine große Hand warm um meine und drückte sie. Ich erwiderte den Druck seiner Hand. Die Freude und Wärme schob sich wie eine Welle der Vaïna über mein Herz. Ich war angekommen und fühlte mich ihnen zugehörig.
Karoline Glück lächelte mir von der anderen Seite der Kirche noch einmal zu. Sie konnte unsere Hände nicht sehen. Ich senkte den Blick.
Dabei trafen meine Augen die eines hochgewachsenen, blonden Mannes, der in der Reihe hinter mir saß. Er hatte ein vom Wetter gegerbtes Gesicht, blaue Augen und einen dichten Schnurrbart, der rechts und links neben seinen Mundwinkeln hing. Sein Blick brannte auf meinem Gesicht, und das Blut stieg mir in den Kopf: Unvermittelt wußte ich, daß er Johannes und mich beobachtet hatte. Ernst Glück kam aus dem kleinen Nebenraum, in dem er mich damals vor fast einem Jahr trocken gerieben hatte. Die Gemeinde erhob sich, und der Gottesdienst begann. Wir saßen den ganzen Gottesdienst, ohne unsere Hände zu bewegen. Als das letzte Lied endete und wir uns zum Gebet erheben mußten, nahm Johannes seine Hand weg. Da war ich nur noch ein halber Mensch.
Johannes und ich begannen in den folgenden Wochen, jeden Augenblick, den wir zusammen verbringen konnten, auszukosten. Viel Zeit war es nie – unsere Leben waren so verschieden! Er lernte den ganzen Tag bei seinem Vater und stellte sich dann in einem Handelskontor nach dem anderen vor. Dennoch, er richtete es sich ein, in den Straßen unterwegs zu sein, wenn ich zum Markt mußte. Er kam mit festen Schritten seiner langen, wohlgeformten Beine in die Kirche, wenn ich dort saubermachte, und wir hielten uns nur fest umfangen, murmelten leise Worte und unser Atem vermischte sich zu klarem Rauch in dem kalten Raum. Wir sprachen nie über eine gemeinsame Zukunft. Aber das störte mich nicht: In meinem Herzen war ich mir doch sicher, was benötigte ich da Worte und Schwüre? Er war mein.
An einem Abend kurz vor Weihnachten waren Johannes und ich allein im Haus. Er streifte schon den ganzen Tag ungeduldig durch die Räume: Vor der Stube seiner Mutter paßte er mich auf der Stiege ab. Bevor ich ein Wort sagen konnte, schlang er schon seine Arme um mich. Er hielt mich warm und fest, und begann mein Gesicht und meinen Hals mit kleinen Küssen zu bedecken.
»Martha!« Er keuchte. »So kann das nicht weitergehen!« Er hob nun mein Gesicht und sah mir in die Augen. »Ich will dich nicht mehr heimlich sehen müssen und wie ein räudiger Köter um dich herumstreichen. Du sollst mir gehören! Meine Frau sein! Im Frühjahr kann ich uns ernähren …«
Ich legte ihm eine Hand auf die Lippen und wisperte: »Du weißt ja nicht, wovon du sprichst, Dummkopf! Deine Eltern werden uns nie erlauben zu heiraten!« Ich spürte Tränen aufsteigen.
»Meine Eltern! Ich brauche ihre Zustimmung nicht! Ich kann für mein Leben dann alleine entscheiden und auch verdienen! Mein Leben mit dir! Jeden Tag und jede Nacht«, murmelte er in mein Ohr.
Ich begann zu weinen, und er
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