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Die Zauberlehrlinge

Die Zauberlehrlinge

Titel: Die Zauberlehrlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Goddard
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sie ihn an. »Natürlich nicht.«
    »Es ist alles, was ich von ihm habe. Du hast Erinnerungen aus einem ganzen Leben. Ich habe nur so viel, wie du mir lässt.«
    »Das ist nicht fair.«
    »Finde ich auch. Aber das Leben ist nicht fair, nicht? Und der Tod auch nicht. Du hättest warten sollen. Das hättest du wirklich.«
    Tränen standen in ihren Augen. Ein einziger Blick auf ein Foto von ihrem Sohn, wie er einmal gewesen war - seltsamerweise mit dem Vater im Hintergrund, für den er sich angeblich überhaupt nicht interessierte -, hatte ihre Selbstbeherrschung erschüttert. Die Erkenntnis, dass sie David weniger gut gekannt hatte, als sie glaubte, machte ihre Trauer noch bitterer. Sie nahm ein Taschentuch heraus und tupfte sich die Tränen ab. »Tut mir leid«, sagte sie. »Zu dumm. Das passiert mir im Augenblick dauernd.« Sie atmete tief ein. Ihre Stimme klang wieder beherrscht. »Also, möchtest du ihn sehen?«
    »Nein.« Zutreffender wäre gewesen, dass er es nicht ertragen würde, ihn zu sehen. David würde aussehen, wie er im Krankenhaus ausgesehen hatte, heiter und gelassen. Und das würde Harry nur daran erinnern, wie nahe er seiner Rettung gewesen war. Außerdem, wenn er Iris jetzt zu Davids Sarg begleitete, wo immer der stand, würde er damit zeigen, dass er seinen Ausschluss von der Beerdigung irgendwie akzeptierte. Ihr den bittersten Teil der Wahrheit zu ersparen, war eine Sache; zur Beschwichtigung ihres Gewissens beizutragen, eine ganz andere. »Du hast mich aus seinem Leben herausgehalten, dann halt mich besser auch aus seinem Tod heraus.«
    »Es tut mir leid, Harry.«
    »Ich weiß, mir auch. Und es wird uns beiden noch viel mehr leid tun.« Er stand auf und schloss seinen Mantel. »Wenn du gewartet hättest, hätte ich alles Menschenmögliche für dich getan. Für dich und David.«
    »Du hättest nichts tun können.«
    »Jetzt kann ich nichts mehr tun. Soviel steht fest.«
    Sie sah zu ihm auf. »Leb wohl, Harry.«
    Er erwiderte ruhig ihren Blick, zwang Verurteilung und Verzeihung zu einer grollenden Ausdruckslosigkeit zusammen. Es gab nichts zu sagen. Der Abschied war nur ein Abwenden, das Schließen einer Tür. Die Zeit, die verborgene Dimension, holte sie ein. Was sie geteilt hatten, war vorbei. Was er zu tun im Begriff war, war nur die stillschweigende Anerkennung des Selbstverständlichen.
    Er hob seine Hand, als wolle er winken, und ließ sie dann wieder fallen. Er verließ sie mit einem einzigen Blick - nicht tröstend, nicht ergeben, nicht versöhnt. Dann drehte er sich um und ging. Er blickte nicht zurück, und sie rief ihn nicht.

51. Kapitel
    Der Zug nach London hatte kaum das Ende des Bahnsteigs verlassen, als Harry schon am Büffet stand und einen Scotch bestellte. Er stand an dem schmalen Fenster und sah, wie die grauen Straßen und Häuserfronten von Manchester an ihm vorbeizogen. Bewegte sich die Stadt, oder bewegte er sich? Er dachte über dieses hübsche Stück Relativität nach, während er den ersten Schluck Whisky trank. Nichts wurde dadurch klarer. Deshalb trank er ja schließlich, er hatte kein Bedürfnis nach Klarheit. Noch etwas mehr davon, und er würde bereuen, dass er Iris so leicht hatte davonkommen lassen.
    »Guten Morgen, Ladys und Gentlemen«, plärrte eine Stimme aus einem Lautsprecher irgendwo über ihm.
    »Hier spricht Ihr Zugführer. Willkommen an Bord des West Coast Intercity nach London-Euston. Dieser Zug hält l n Stockport, Macclesfield, Stoke-on-Trent, Watford Junckern und London-Euston.«
    Warum, überlegte Harry, während er den Plastikbecher Wieder an die Lippen hob, hatte er Iris nicht leiden lassen für etwas , was sie getan hatte? Weil er immer zu weich gewesen war, auf seine Art zu sehr Gentleman. Vielleicht faul und ohne Ehrgeiz, aber niemals grausam oder rachsüchtig. Irgendwie ritterlich vielleicht, wenn diese Ritterlichkeit auch oft ignoriert oder missverstanden worden war. Was das betraf, waren ihre Grenzen ja auch niemals erprobt worden. Hätte er ihr in all diesen Jahren auch beigestanden, wenn sie Claude gesagt hätte, dass sie von einem anderen Mann schwanger war, und er sie verstoßen hätte? Hätte er an ihrer und Davids Seite sein Bestes getan? Es war leicht, das zu bejahen und ihr vorzuwerfen, dass sie ihm keine Gelegenheit dazu gegeben hatte. Immerhin hatte sie ihm wenigstens den Zweifel gelassen, und Zweifel war immer ein zweischneidiges Schwert.
    Doch der Zorn blieb. Er schien sogar zu wachsen, als der Whisky Harrys Trauer unterhöhlte. Er

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