Die zehnte Kammer
Sie ihn?«, fragte Luc.
»Unseren Tee? Einmal die Woche. Immer spätnachts, natürlich, damit nicht irgendein Idiot ins Dorf gerumpelt kommt und uns stört. Vielleicht könnten wir ihn weniger oft trinken, aber es ist nun mal eine Familientradition, und, offen gestanden, macht es uns Spaß. Ich hab ihn bestimmt schon über zehntausendmal eingenommen, und es war kein einziges Mal langweilig. Sie werden es sehen.«
»Keine Chance, dass ich mit Ihnen gemeinsame Sache mache«, sagte Luc.
»Nein?«, antwortete Bonnet achselzuckend. Er tauchte einen Finger in den Kessel und zog ihn rot wieder heraus. Er leckte ihn ab und erklärte: »Wir sind so weit fertig. Ist wieder mal ein guter Ruac-Tee geworden, was denkst du, Pelay?«
Der Doktor probierte von der Kelle. »Kann mich an keinen besseren erinnern«, lachte er. »Es tut mir leid, dass ich ihn nicht gleich trinken kann.«
»Wir sind nun mal die Hüter heute Nacht, mein alter Freund. Besondere Hüter für besondere Gäste.« Er sah sich um. »Jacques!«, schrie er. »Wo, zum Teufel, bist du?«
Sein Sohn tauchte aus einem der Gänge auf.
»Wir sind fertig«, teilte Bonnet ihm mit. »Sag es ihnen.«
Sara gab Luc ihre freie Hand. Sie fühlte sich schlaff und kalt an. Es gab wenig, was er ihr sagen konnte außer: »Alles wird gut. Bleib tapfer.« Bald hörten sie gedämpftes Glockenläuten. Es dauerte nicht länger als eine halbe Minute, dann hörte es auf.
Nach und nach trafen in kleinen Gruppen die Dorfbewohner ein. Keiner schien jünger als Mitte zwanzig zu sein, und die meisten wirkten älter, obwohl Luc sich schwertat, ihr genaues Alter zu schätzen. Auch Odile erschien und warf dem gefesselten Paar einen schuldbewussten Blick zu. Es gab etwa dreißig oder vierzig Personen in ihrem Alter, die sich zu einer Gruppe geschart hatten wie die anderen Altersklassen auch. Die Anwesenheit der beiden Fremden schien alle nervös zu machen. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten unbehaglich miteinander. Alles in allem mochten es wohl an die zweihundert Menschen sein, aber Luc hatte irgendwann einmal aufgehört zu zählen.
Bonnet schlug die Kelle gegen den Kessel, damit alle auf ihn aufmerksam wurden. »Liebe Leute«, rief er. »Kommt und holt euch euren Tee. Bloß keine Schüchternheit wegen unserer Gäste, die ihr ja alle kennt. Verschwendet keinen Gedanken an sie. Kommt schon, wer will heute Abend der Erste sein?«
Sie stellten sich ordentlich in einer Reihe an, und jeder bekam der Reihe nach einen bis zum Rand mit rotem Tee gefüllten Pappbecher. Einige nippten daran wie an einer normalen Tasse Tee, andere, vor allem die jüngeren Dorfbewohner, kippten ihn mit einem Schluck hinunter.
Sie nahmen Luc als eine Art Gemeindemitglied hin, das ebenso wie sie die Heilige Kommunion bekam. Aber Bonnet war kein Priester. Er grinste und witzelte, während er das Gebräu ausschenkte, und fand es unheimlich komisch, wenn er etwas davon auf den Tisch kleckerte.
Als die letzte Dörflerin, eine breithüftige, alte Frau mit langem, zu einem Dutt verknoteten grauen Haar, ihren Becher erhielt und ihm etwas zuflüsterte, erwiderte Bonnet laut: »Nein, nein. Für mich später. Ich habe heute Nacht noch etwas zu tun. Aber komm mit, ich möchte dir jemanden vorstellen.«
Bonnet führte die Frau zu Luc und Sara. »Das ist meine Ehefrau Camilla. Das sind die Archäologen, von denen ich dir erzählt habe. Ist der Professor nicht ein gutaussehender Kerl?«
Als die Frau des Bürgermeisters anerkennend brummte, gab ihr Bonnet einen Klaps aufs Hinterteil und sagte, sie solle sich ruhig ohne ihn amüsieren. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich so nahe neben Luc, dass dieser ihn gerade nicht erreichen konnte.
»Wissen Sie, ich bin müde«, seufzte er. »Es ist spät, und ich bin nicht mehr so jung, wie ich es einmal war. Lasst mich ein bisschen bei euch sitzen.«
Saras Augen wanderten durch den Raum. Alles ging geordnet und zivilisiert vonstatten. Die Leute tranken ihren Tee aus und warfen ihre Becher brav in eine Tonne, und ihre hin und wieder von einem höflichen Lachen unterbrochenen Gespräche führten sie in dezenter Lautstärke.
»Was passiert als Nächstes?«, fragte sie.
»Warten Sie, dann sehen Sie es. Bei manchen dauert es fünfzehn Minuten, bis der Tee wirkt, bei anderen zwanzig. Sehen Sie zu. Sie werden es schon merken, wenn es so weit ist.« Er rief nach Pelay, der sich mit zwei weiteren Bechern Tee vom Klapptisch her näherte.
Als Sara ihn sah, fing sie an zu
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