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Die Zeit: auf Gegenkurs

Die Zeit: auf Gegenkurs

Titel: Die Zeit: auf Gegenkurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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sogar …«
    »Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen«, unterbrach Roberts, »daß dies der eigentliche Grund dafür war, daß Ihre Frau erneut in die Bibliothek verschleppt wurde? Als Geisel? Um Sie auszuschalten?«
    »Ich hatte die Wahl«, beharrte Sebastian, »zwischen …«
    »Man hat Sie psychologisch richtig eingeschätzt«, sagte Roberts vernichtend. »Es gibt Psychiater dort; man wußte, wie man sie ködern konnte. Ann Fisher fürchtet sich nicht vor dem Tod. Sie hat Ihnen etwas vorgemacht; sie hat sich nicht ›freigekauft‹. Sie hat Sie aus dem Weg geschafft, fort von dem Anarchen. Wenn Ann Fisher wirklich Angst vor Ihnen gehabt hätte, wäre sie nicht in Ihre Nähe gekommen.«
    Widerstrebend sagte Sebastian: »Vielleicht – haben Sie recht.«
    »Sie haben den Anarchen gesehen? Er ist wirklich noch am Leben?«
    »Ja«, bestätigte Sebastian. Er spürte, wie er der Luft Feuchtigkeit entzog; sie sammelte sich als Schweiß unter seinen Achseln, lief ihm den Rücken hinunter. Er spürte, wie seine Poren – vergeblich – versuchten, den Schweiß zu absorbieren. Es hatte sich zuviel angesammelt.
    »Und die Löschungsräte haben sich ihn vorgenommen?«
    »Es – waren Löschungsräte bei ihm. Ja.«
    »Sie haben die menschliche Geschichte verändert, ist Ihnen das klar?« sagte Roberts. »Oder vielmehr haben Sie versäumt, sie zu ändern. Sie haben Ihre Chance gehabt und vertan. Man hätte sich für immer an Sie als Vitariumbesitzer erinnert, der den Anarchen wiederbelebt und gerettet hat; Sie wären von den Uditen und vom Rest des Planeten nie vergessen worden. Und Sie hätten eine völlig neue Grundlage für religiösen Glau ben schaffen können. Gewißheit wäre an die Stelle bloßen Glaubens getreten, und eine absolut neuartige Form der Offenbarung hätte sich durchgesetzt.« Ray Roberts’ Stimme verriet keine Spur von Zorn; er sprach ruhig, nannte lediglich Tatsachen. Tatsachen, die Sebastian nicht leugnen konnte.
    »Sag ihm«, drängte Lotta hinter ihm, »daß du es noch einmal versuchen wirst. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und streichelte ihn ermutigend.
    »Ich gehe noch einmal zurück in die Bibliothek«, erklärte Sebastian.
    »Daß wir Sie geschickt haben«, sagte Roberts, »war ein Kompromiß mit Giacometti; er hatte uns gebeten, auf Gewalt zu verzichten. Jetzt ist unsere Vereinbarung nichtig; es steht uns frei, unsere Zeloten einzusetzen. Aber …« Er schwieg einen Moment. »Sie werden wahrscheinlich eine Leiche finden. Die Bibliothek wird die Jünger identifizieren, sobald der erste das Gebäude betritt. Wie Giacometti es gestern nacht vorhergesagt hat. Trotzdem bleibt uns keine andere Wahl. Mit der Bibliothek sind keine Verhandlungen möglich. Nichts von dem, das wir haben oder anbieten können, wird sie dazu bringen, den Anarchen freizulassen. Der Fall ist in keiner Weise mit dem von Mrs. Hermes vergleichbar.«
    »Nun«, brummte Sebastian, »es war nett, mit Ihnen zu sprechen. Ich bin froh, daß Sie mir die Situation erläutert haben; vielen Dank für …«
    Der Bildschirm wurde schwarz. Ray Roberts hatte aufgelegt. Ohne ein Abschiedswort.
    Sebastian saß da, hielt den Hörer noch eine Weile in der Hand und legte ihn dann langsam zurück auf die Gabel. Er fühlte sich um fünfzig Jahre älter … und um hundert Jahre müder.
    »Weißt du«, wandte er sich schließlich an Lotta, »wenn man in seinem Sarg erwacht, spürt man zuerst eine seltsame Müdigkeit. Dein Geist ist leer; dein Körper empfindungslos. Dann kommen die ersten Gedanken, du willst etwas sagen, etwas tun. Aber dein Körper reagiert immer noch nicht; du kannst nicht sprechen, und du kannst dich nicht bewegen. Es dauert …« Er überlegte. »Schätzungsweise achtundvierzig Stunden.«
    »Ist es sehr schlimm?«
    »Es ist das Schrecklichste, was ich je erlebt habe. Viel schlimmer als das Sterben.« Und genau so fühle ich mich jetzt, dachte er.
    »Kann ich etwas für dich tun?« fragte Lotta mitfühlend. »Soll ich dir etwas warmes Sogum holen?«
    »Nein«, wehrte er ab. »Danke.« Er stand auf, durchquerte langsam das Wohnzimmer und blieb vor dem Fenster stehen, von dem aus man die Straße überblicken konnte. Er hat recht, sagte er sich. Ich hätte die menschliche Geschichte verändern können, aber ich habe versagt; mein eigenes Leben war mir wichtiger – auf Kosten jedes anderen lebenden Menschen – und vor allem dem der Uditen. Ich habe die ganze neue Grundlage für eine weltumspannende Religion zerstört; Ray

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