Die Zeit: auf Gegenkurs
Roberts hat recht!
»Kann ich etwas für dich tun?« fragte Lotta sanft.
»Es geht schon«, sagte er und beobachtete die Straße, die Passanten und die Bodenfahrzeuge, die an Sardinenbüchsen erinnerten. »Wenn man im Sarg liegt«, fuhr er fort, »ist es das Schlimmste, daß der Geist lebt, der Körper aber nicht, und man spürt diese Dualität. Wenn man tot ist, spürt man nichts davon; man hat überhaupt keine Verbindung zu seinem Körper. Aber das …« Er gestikulierte wild. »Ein lebendiger Geist, der an einen Leichnam gefesselt, in ihm eingesperrt ist. Und man hat nicht das Gefühl, daß der Körper jemals wieder leben wird; man scheint ewig zu warten.«
»Aber du weißt«, erinnerte Lotta, »daß es dir nie wieder passieren kann. Es ist vorbei.«
»Aber ich erinnere mich daran«, sagte Sebastian. »Das Erlebnis ist ein Teil von mir.« Er schlug sich heftig mit der Hand gegen die Stirn. »Es ist immer da.« Das ist es, sagte er sich, woran ich denke, wenn ich wirklich schreckliche Angst habe; es kommt dann an die Oberfläche. Ein Symptom meines Entsetzens.
»Ich veranlasse alles«, sagte Lotta; sie schien irgendwie seine Gedanken lesen zu können, ihn irgendwie verstehen zu können. »Für unsere Auswanderung zum Mars. Du gehst ins Schlafzimmer, legst dich hin und ruhst dich aus, und ich erledige die Anrufe.«
»Du weißt doch, wie sehr du es haßt, das Vidfon zu benutzen«, sagte er. »Du verabscheust es. Das Vidfon ist dir ein Greuel.«
»Diesmal kann ich es.« Sie führte ihn mit sanfter Hand ins Schlafzimmer.
19. K APITEL
Aber in diesen Dingen gibt es keinen Ort der Ruhe;
sie verweilen nicht, sie fliehen;
und wer kann ihnen mit den Sinnen des Fleisches folgen?
– Augustinus
Während er schlief, träumte Sebastian vom Grab; er träumte, wieder in dieser engen Plastikkiste zu liegen, der letzten Ruhestätte, in der Dunkelheit. Er rief immer und immer wieder: »Mein Name ist Sebastian Hermes, und ich möchte ‘raus! Kann mich da oben irgend jemand hören?« Im Traum lauschte er. Und, weit entfernt, zum zweitenmal in seinem Leben, spürte er das Gewicht von Schritten, spürte, wie sich jemand seinem Grab näherte. »Laßt mich ‘raus!« kreischte er immer und immer wieder; und er kämpfte wie ein schwitzendes Insekt gegen den Kunststoff in dem er eingesperrt war. Umsonst.
Dann begann jemand zu graben; er spürte, wie sich der Spaten in die Erde bohrte. »Ich brauche Luft!« wollte er rufen, aber da er keine Luft mehr hatte, konnte er nicht atmen; er erstickte. »Beeilt euch!« schrie er, aber in der Luftleere war sein Schrei unhörbar. Zur Bewegungslosigkeit verdammt lag er da, zusammengepreßt von einem ungeheuren Vakuum; der Druck nahm zu, bis seine Rippen lautlos brachen. Er spürte, wie auch seine Knochen nach und nach splitterten.
»Wenn Sie mich hier herausholen«, versuchte er zu sagen (wollte er sagen), »gehe ich wieder in die Bibliothek und suche den Anarchen. Okay?« Er horchte; die Grabung wurde fortgesetzt; dumpfe, regelmäßige Spatenstiche. »Ich verspreche es«, erklärte er. »Abgemacht?«
Der Spaten scharrte über seinen Sargdeckel.
Ich gebe es zu, dachte er. Ich hätte ihn herausholen können, aber ich habe lieber meine Frau befreit. Sie haben mich nicht daran gehindert; es war meine Schuld. Aber ich werde es nicht wieder tun; ich verspreche es. Er lauschte; mit einem Schraubenzieher wurde der Deckel geöffnet, das letzte Hindernis zwi schen ihm und dem Licht, der Luft. Beim nächstenmal wird alles anders sein, versprach er. Okay?
Knirschend wurde der Deckel zur Seite geschoben. Licht flutete herein, und er blickte nach oben, sah über sich ein Gesicht, das zu ihm hinunter starrte.
Ein runzliges, dunkles, schmales altes Gesicht. Der Anarch.
»Ich habe Sie rufen hören«, sagte der Anarch. »Ich habe alles stehen und liegen gelassen und bin Ihnen zu Hilfe geeilt. Was kann ich für Sie tun? Wollen Sie wissen, welches Jahr wir haben? Vier vor Christi Geburt.«
»Warum?« fragte Sebastian. »Was bedeutet das? Er spürte, daß es von ungeheurer Tragweite war; er empfand Ehrfurcht.
»Sie sind der Erlöser der Menschheit«, sagte der Anarch. »Durch Sie wird sie von ihren Sünden befreit werden. Sie sind der wichtigste Mensch, der je geboren wurde.«
»Was muß ich tun«, fragte Sebastian, »um die Menschheit zu erlösen?«
»Sie müssen noch einmal sterben«, antwortete der Anarch, aber nun wurde der Traum ätherisch und verschwommen, und er wurde langsam wach; er
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