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Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition)

Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition)

Titel: Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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aufgewühlt erwärmte Ida den Brei und schloss das Brot weg, nachdem sie die Stelle, an der die Ratte genagt hatte, herausgeschnitten hatte. Auch die Butter kam gut abgedeckt in den Küchenschrank. Ida war der Appetit vorerst vergangen.
    Durch das Fenster sah sie, dass draußen strahlend die Sonne schien. Sie musste sich zusammennehmen und den Gedanken an die Ratte verdrängen, bevor sie zu den Kindern hinausging, um sie zu füttern. Ein aufgeregter Chasseur, schwankend zwischen seiner Angst vor dem Schuss und seiner selbst gewählten Aufgabe, die Kinder zu beschützen, erwartete sie vor dem Haus. Sichtlich erleichtert legte er sich zu ihren Füßen nieder, als sie die lauthals schreiende Carol und die irritiert jammernde Linda aus dem Korb nahm und ihnen abwechselnd Brei in die Mündchen löffelte. Die Waffe ging Ida dabei nicht aus dem Kopf, auch nicht, als sie den Kindern Wiegenlieder vorsang, bis sie wieder schliefen.
    »Euch bringe ich jetzt ins Schlafzimmer«, sagte sie, hob entschlossen den Korb mit den Mädchen auf und trug ihn ins Haus.
    Das Schlafzimmer war der schallsicherste Raum des Hauses, sie wusste noch, dass die Schreie der Nachtvögel nur sehr gedämpft zu ihr durchgedrungen waren, als sie sich dort verängstigt verschanzt hatte. Sie legte die Kinder in die Wiege und zog den Vorhang zu.
    »Und du bellst möglichst nicht!«, befahl sie Chasseur, der ihr nachgelaufen war und zufrieden aufs Bett sprang, um von dort aus die Wiege zu bewachen. »Halt dich zurück. Ich mache demnächst schließlich deine Arbeit!«
    Ida nahm den Revolver an sich, trug ihn hinaus ins Freie und legte kleinere und größere Steine auf den Zaun des Pferdeauslaufs. Sie würde das Ding jetzt ausprobieren. Sie würde es immer wieder abfeuern. Sie würde lernen zu zielen. Und sie würde lernen zu treffen!
    Chasseur und die Babys gewöhnten sich in den nächsten Tagen an Idas Schießübungen. Ida verbrachte die Nachmittage nicht mehr damit, Wolle zu waschen, zu färben und zu spinnen, sondern ihre Waffe zu reinigen, zu laden und neue Munition dafür zu gießen. Sie tat das alles in äußerster Anspannung. Bisher war die riesige Ratte nicht wieder erschienen. Aber es konnte jeden Tag so weit sein. Immer wieder spähte sie ängstlich in die Wiege der Mädchen, sie holte sie sogar bei Nacht in ihr eigenes Bett, obwohl sie ständig befürchtete, die stille Linda zu erdrücken, während die sehr lebhafte, im Schlaf strampelnde und manchmal greinende Carol sie ihrerseits um den Schlaf brachte. Tagsüber ging Ida nirgendwohin ohne ihre Waffe in der Rocktasche. Es war ein gutes Gefühl – sie fühlte sich auch nicht mehr albern, weil sie sich vor Geistern fürchtete. Die Bedrohung war ganz real, sie musste ihr nur gewachsen sein.
    Eines Morgens, Ida wollte Jennifer melken und griff wie selbstverständlich nach Eimer und Melkschemel, sah sie die Ratte oder einen ihrer Artgenossen auf dem Boden herumschnüffeln. Weil die Kuh beim Melken ruhiger stand, wenn sie dabei etwas kauen konnte, hatte Ida einen Eimer Getreide vor sie gestellt. Die Ratte hatte es offensichtlich darauf abgesehen. Und dann geschah es. Ida nahm gelassen die Waffe aus der Tasche, entsicherte und zielte. Nur einen Augenblick später feuerte sie kühl und selbstsicher einen Schuss ab. Ida spürte den Rückstoß, aber sie schloss dabei schon längst nicht mehr erschrocken die Augen. Sie sah, wie die Ratte explodierte – und schoss sofort noch einmal auf die blutigen Überreste. Es war überflüssig, das Tier konnte den ersten Treffer nicht überlebt haben, doch irgendetwas hatte der Schuss in Ida bewirkt.
    »Stirb!«, schrie sie. »Stirb, du … du verdammtes Biest, du … Stirb, du … du …«
    Ida feuerte auch die dritte, vierte und fünfte Kugel auf die zerschmetterte Ratte ab. Sie war erfüllt von Genugtuung, von Rache, von rasender Wut und Freude. Sie schoss auf all ihre Dämonen, auf ihre Geister, auf ihre Angst. Und sie fühlte sich dabei so befreit, so leicht und glückselig wie nie zuvor – außer vielleicht während des unvergesslichen Augenblicks, in dem sie Karl Jensch geküsst hatte.
    Schließlich ließ sie die Waffe sinken, beseitigte die Überreste der Ratte – und nahm dann endlich die Welt wieder wahr. Sie war so berauscht gewesen, dass sie das Erlebte nur wie in einem Nebel wahrgenommen hatte, das Einzige, was klar vor ihr gestanden hatte, war ihr Ziel gewesen, gefühlt hatte sie nur ihre Verschmelzung mit der Waffe. Jetzt aber hörte sie die Kinder

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