Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Luft. Super, gleich kippt er um und kriegt einen Infarkt.
Hat mich diese Vorstellung geschreckt? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich ihm alle »Unzulänglichkeiten« verzieh, als er sagte: »Ich will nicht dran denken, was das bedeuten kann, sonst dreh ich durch. Der Gedanke macht mich fertig.«
Das war das einzige Mal, dass die Frage, was wäre wenn, zwischen uns auftauchte. Eine Antwort hatten wir nicht.
*
Zwei Tage vor meiner Krebsoperation gingen wir gemeinsam mit unseren Kindern in einen Park in Koblenz. Wir machten Familienfotos, Bilder, die Glück und Freude ausstrahlen sollten. Ich wollte, dass meine Kinder mich so in Erinnerung behalten sollten, auch wenn ich wusste, dass wir ihnen hier etwas vorspielten, das es längst nicht mehr gab. Momentaufnahmen, die eine falsche Idylle heraufbeschworen, wie damals in dem Fotoautomaten auf dem Bahnhof, als Lea, Ines und ich für einen kurzen Moment frei waren.
Im Nachhinein war das Beste an dieser Diagnose die Tatsache, dass meine Vergangenheit für einige Jahre wieder fest in ihrer vertrauten Schublade verschwand. Ich hatte andere Sorgen, es war vermeintlich einfach, den Rest dahinter zu verstauen. Der verdammte Kleiderschrank. Immer noch ein Stück reinstopfen, mit immer noch größerer Kraft die Tür zurammen, den Schlüssel umdrehen, auch wenn das Schloss schon bedrohlich knackt. Weg damit. Flucht in den Alltag.
Jeden Morgen stand ich um halb sechs auf, schmierte Brote, kochte Kaffee und legte die Zeitung auf den Küchentisch. Jeden Morgen fragte ich mich, wer das einmal übernehmen würde, wenn ich nicht mehr war. Der Gedanke, dass eines Tages eine andere Frau diese Lücke füllen könnte, war unerträglich. Die wenigen Male, wenn ich diese Angst in Worte fassen konnte, wurde ich abgebügelt: »Was soll das denn, die Werte sind doch nicht schlecht, das wird schon. … Übrigens: Mach mir doch morgen bitte eine andere Wurst aufs Brot.«
Jawoll, Sir, ich ziehe das Laken noch mal glatt. Jawoll, Sir, ich habe versagt, knie mich gerne auf den Besen. Ich habe den Pudding gegessen, ich habe vergessen, dass es Göttinger war, nicht Leberwurst.
An den meisten Tagen schleppte ich mich im Morgengrauen nur mit Mühe die Wendeltreppe nach unten. Ich war froh, dass das Licht in der Küche etwas gedämpfter war, eine Funzel, die mein Gesicht nicht wirklich ausleuchtete. Durch den Krebs hatte ich massiv abgenommen, Haut und Knochen, durchsichtig, mit tiefen Augenringen. Wenn mein Mann in die Küche kam, redete er ohne Punkt und Komma. Und wenn er nicht redete, pfiff er vor sich hin oder drehte sofort das Radio auf. Er konnte die Stille nicht ertragen. Genauso wenig wie ich den Lärm. Ich schwieg. War mundtot, das Getöse legte sich wie ein Film über mich, eine Zeitlupenfunktion.
»Guten Morgen allerseits, hier ist RPR 1, ein toller Tag, wir starten mit einem Song von Ich & Ich und ihrem Tophit ›So soll es bleiben‹.«
… Bis jetzt fühl ich nur die Hälfte, von allem was geht, ich muss noch weitersuchen, weil immer noch was fehlt …
Ein bescheuerter Text. Aber er passte, zumindest wenn ich die letzte Zeile wegließ: Wie endlich etwas in mir ruht, yeah, oh yeah .
Rausgerissen
Jedes Sandkorn merkt man hart
Wenn’s rund läuft, so bei ruhiger Fahrt
Und oft ist es, was man gerne vergisst
Dass die Schatten dunkler, wenn’s Licht heller ist
Es war ein Tag wie jeder andere gewesen. Mein Mann hatte mich geweckt, die Kanne mit frischem Kaffee stand bereits auf dem Tisch. Seit meiner Schwangerschaft mit Amy hatte er diesen Part übernommen. Ich genoss das, denn ich brauchte morgens immer etwas Zeit und vor allem den Koffeinschock, um einigermaßen wach zu werden. Ich schlurfte die Wendeltreppe nach unten, froh, dass das Licht in der Küche gedämpft war. Wolfgang, ein absoluter Morgenmensch, redete ohne Punkt und Komma, dazwischen pfiff er ein Lied und bereitete seine Brote vor. Auch das machte er inzwischen selbst, ich hatte es nie richtig machen können. Entweder war die Butterschicht zu dick oder zu dünn oder die falsche Wurst drauf oder oder. Irgendwann hatte ich gestreikt.
Nach der zweiten Tasse Kaffee weckte ich Raphael, das war jeden Morgen ein ziemlicher Zirkus, bis er endlich aus den Federn kam und am Küchentisch seine Cornflakes knusperte.
Wenn meine beiden »Männer« aus dem Haus waren, nutzte ich die freie Zeit in meinem Atelier. Luis, der mich während der Nacht immer wieder gut auf Trab hielt, schlief morgens meistens bis zehn.
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