Die Zeit, die Zeit (German Edition)
einen Schluck Wasser. »Verstehst du? Wenn wir nachträglich den Lauf der Dinge ändern? Wenn zum Beispiel der Fleck an der Fassade doch an der richtigen Stelle gewesen wäre und wir also nicht hier heraufkommen und dieses Gespräch führen würden: Was ist dann mit diesem Gespräch, das wir jetzt ja führen? Haben wir es dann nicht geführt?«
Angela nahm ihm das Glas aus der Hand und leerte es. »Scheiß Zeit. Man bekommt es einfach nicht aus dem Kopf, dieses Zeitdenken. Vorher, jetzt, nachher. Es gibt keine Zeit, deshalb geschieht alles gleichzeitig. Du kannst nicht nachträglich eine Ursache ändern, weil es kein Nachträglich gibt.«
Taler überlegte. »Und der elfte Oktober? Der liegt doch in der Zukunft?«
Der Einwand brachte sie nicht aus dem Konzept. »Nein. Der Elfte ist jetzt.«
Auf seinem Schreibtisch stand eine Schachtel Pralinés mit einer großen Schleife, in der ein Kärtchen mit einem dunkelroten Kussabdruck und Bettys Unterschrift steckte. Die Maschine nach Zypern startete bereits am Freitagnachmittag. Taler hatte sich bereit erklärt, Bettys Freitagspendenzen mitzuerledigen.
Kübler platzte ins Büro mit seinem »wunderschönen guten Morgen«. Er trat an Talers Schreibtisch und legte einen Stapel Papiere neben den Bildschirm. »Die von Betty auch, hat sie mir aufgetragen.«
»Wow!« Er hatte die Pralinés gesehen, zog das Kärtchen unter der Schleife hervor und küsste Bettys Kussabdruck. »Das Arbeitsklima im Büro Taler wird von Tag zu Tag besser.«
Taler sah ihn ausdruckslos an, bis er den Raum verlassen hatte. Auch so einer, den er nicht vermissen würde.
Er begann, sich durch sein Doppelpensum hindurchzuarbeiten. Es fiel ihm leicht, denn er tat es im Gefühl, dass es das letzte Mal war.
Beim Betreten des Büros hatte er die Abwesenheit der zugempfindlichen Betty genutzt und ein Fenster geöffnet. Aber jetzt war Wind aufgekommen, und er schloss es wieder. Als er an Bettys Schreibtisch vorbeiging, sah er in ihrem Ausgangskorb einen Umschlag für interne Post. Kübler hatte ihn übersehen, weil er Bettys Post direkt Taler gebracht hatte. Peter nahm ihn und legte ihn in seinen eigenen Ausgangskorb.
Es war ein brauner Umschlag, der an Gerber, seinen Chef, adressiert war. Durch die vier Lochungen des Kuverts sah er, dass es maschinenbeschriebene Blätter enthielt.
Er nahm sie heraus.
Es waren Kopien der drei Rechnungen. Auf eine gelbe Klebnotiz hatte Betty geschrieben: »Finde ich nicht auf der Lieferantenliste. Gruß Betty.«
Auch noch per Du.
Sie hatten sich für das Wochenende die Rekonstruktion von Knupps Arbeitszimmer vorgenommen. Die Fotos, Pläne und Skizzen, die sie für die Einpassung der Pflanzen und Gegenstände gebraucht hatten, hatten sie schon von den Wänden abgenommen. Taler war dabei, sie zu ordnen und in Archivschachteln abzulegen. Er würde sie später in seine Wohnung bringen, denn im Haus durfte nichts sein, das nicht schon damals da gewesen war. Das Material würde auch als Dokumentation des Experimentes dienen. Am zwölften Oktober würde es nach Knupps Meinung auf einen Schlag einen unschätzbaren wissenschaftlichen Wert besitzen. Taler zog auch die Möglichkeit in Betracht, dass es dann gar nicht mehr existieren würde, falls das Experiment gelang. Angela beteiligte sich nicht an den Spekulationen.
Sie war damit beschäftigt, mit Knupps Hilfe die Trophäensammlung wiederherzurichten. Die Nägel und Wandhaken für die Diplome und Wappenscheiben waren alle mit Papierklebeband markiert und mit Filzstift nummeriert. Auch die Standorte für Becher und Trophäen trugen Nummern. Zu jedem Stück gehörte ein Foto mit Maßangaben. Es wurde kaum gesprochen. Sie waren in ihre Arbeit vertieft wie Kinder in ihr Spiel.
Die Verjüngungskur, mit der Albert Knupp seine Abwesenheit vor ein paar Tagen begründete, hatte ihn noch einmal verändert. Seine Haut war da und dort noch ein wenig glatter geworden, sein Gesichtsausdruck ein wenig starrer. Er hatte seinen Bart frisch trimmen und färben lassen. Die weißen Stoppeln, die ihn säumten, waren zwar wieder nachgewachsen, aber er hatte am zehnten Oktober abends einen Rasiertermin, hatte er Taler verraten.
Knupps Umgang mit Angela war sehr vertraut geworden. Taler nahm an, dass sie sich ihm gegenüber ebenfalls als Glaubensschwester geoutet hatte. Der Umstand, dass sie auch mit Knupp nicht mehr vom Film oder vom Drehbeginn sprach, sondern mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie Knupp und Taler vom Elften, ließ kaum
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