Die Zeit-Odyssee
in der Geschichte deiner
Großväter, Ruddy! Was, wenn es hier überhaupt
keine Menschwerdung gegeben hat? Dann bist du eine gerettete
Seele in einer Welt von Heiden! Bist du Vergil? Oder
Dante?«
»Ich… ah.« Ruddy verstummte, die breite
Stirn in Falten gelegt. »Es bräuchte wohl einen
geübteren Theologen als mich, dieses knifflige Problem zu
klären. Lasst es uns unserer Reiseroute hinzufügen: Wir
müssen Augustinus aufsuchen oder Thomas von Aquin und sie
fragen, was sie darüber denken. Und wie steht es mit
Ihnen, Abdikadir? Was, wenn es kein Mekka gäbe? Wenn
Mohammed erst geboren werden sollte?«
»Der Islam ist nicht an die Zeit gebunden wie das
Christentum«, antwortete Abdikadir. » Tawhid, die Einzigartigkeit, bleibt bestehen, auf Mir wie auf der Erde,
in der Vergangenheit wie in der Zukunft: Es gibt keinen Gott
außer Gott, und jeder Teil des Universums, jedes Blatt auf
jedem Baum ist ein Ausdruck Seiner Allgegenwart. Und der Koran
ist das unverfälschte Wort Gottes – in dieser Welt wie
in jeder anderen, ob Sein Prophet nun existiert, um es zu
verkünden, oder nicht.«
Josh nickte. »Das ist ein tröstlicher
Gesichtspunkt.«
»As salaam alaikum«, sagte Abdikadir.
»Trotz allem – die Sache könnte noch
komplizierter sein«, sagte Bisesa. »Wir müssen
uns vor Augen halten, dass Mir nicht aus einem einzigen
Zeitrahmen stammt. Es ist ein Flickwerk, und das würde
sicher auch für Mekka und Judäa Geltung haben.
Vielleicht existieren Teile von Judäa aus der Zeit vor
Christi Geburt – doch auch Teile von später, Stellen,
über die er einst geschritten sein mag. Bezieht sich also
die Menschwerdung auf dieses Universum oder nicht?«
»Wie seltsam dies alles ist!«, rief Ruddy aus.
»Nehmen wir mal an, jedem von uns sind
fünfundzwanzigtausend Tage Leben gegönnt. Wäre es
möglich, dass auch wir fragmentiert sind – dass
jeder einzelne Tag aus unserem Leben herausgeschnitten ist wie
die Quadrate eines Schachbretts?« Mit einer weiten
Gebärde deutete er zum aschgrauen Himmel. »Ist es
möglich, dass es irgendwo da draußen
fünfundzwanzigtausend weitere Ruddys gibt, die alle ihr
Leben, so gut es geht, wieder aufnehmen?«
»Ein solch redseliger Klugscheißer reicht mir
schon«, knurrte Casey; es war sein erster Beitrag zur
Diskussion, worauf er einen langen Schluck aus seiner Ziegenhaut
voll gewässertem Wein nahm.
Cecil de Morgan hörte diesen Gesprächen zu, meist
schweigend. Bisesa wusste, dass er eine lose
Interessensgemeinschaft mit Eumenes, Alexanders griechischem
Kanzler, geformt hatte und seinem neuen Partner berichtete,
worüber in diesen Diskussionen spekuliert wurde. Beide waren
selbstverständlich nicht ohne Eigennutz: Eumenes sah seine
Prioritäten in den Grabenkämpfen mit Alexanders anderen
Höflingen, allen voran Hephaistion; und Cecil hielt sich wie
immer an vorsichtiges Lavieren. Doch alle wussten das, und Bisesa
sah nichts Schlimmes daran, wenn solche Informationen durch Cecil
an Eumenes gelangten. Schließlich saßen sie alle im
selben Boot.
Und die Flotte segelte weiter.
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DER TEMPEL
Wenn die Mongolen das Lager abbrachen, galt es zuallererst,
die Pferde einzufangen.
Mongolische Pferde lebten halbwild, in Herden, denen man
erlaubte, sich frei durch die Steppe zu bewegen, bis sie wieder
benötigt wurden. Mit einiger Besorgnis hatte man diesem Tag
entgegengesehen, da befürchtet wurde, die Risse in der Zeit
könnten viele der Herden, auf die sich Dschingis Khans
Pläne stützten, einfach weggezaubert haben. Doch dann
wurden die Reiter ausgesandt, um sie zurückzuholen, und tags
darauf donnerten die Herden wie riesige Wolken über die
Ebene auf die Jurtenmetropole zu. Die Männer trieben sie
immer weiter zusammen und schwangen lange Stangen mit Schlingen
an den Enden. Und als hätten sie gewusst, dass ein tausende
Kilometer langer Marsch vor ihnen lag, bockten die Pferde und
warfen die Köpfe zurück, und erst als sie die
Bindeseile spürten, ließen sie sich
wegführen.
Kolja fand es typisch für die ganze unzivilisierte Art
der Mongolen, dass selbst der größte Feldzug erst mal
mit einem Rodeo beginnen musste.
Nach dem Spektakel des Zusammentreibens der Pferde verliefen
die restlichen Vorbereitungen für den Marsch blitzschnell.
Die meisten Jurten wurden zusammengelegt und auf Karren oder
Lasttiere verladen, doch einige der größeren Zelte,
einschließlich jener, die den Pavillon
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