Die Zeit-Odyssee
Doppelscheibe umrahmte.
Doch diese Sonnenfinsternis war keine totale. Der Mond war
nicht groß genug, um dieses leuchtende Antlitz
vollständig zu bedecken. Der breite Ring aus Licht dort oben
war ein verwirrender, furchterregender Anblick.
»Irgendetwas stimmt da nicht«, murmelte Josh.
»Die Geometrie«, sagte Bisesa. »Das System
Erde-Mond… Es verändert sich mit der Zeit.« So
wie der Mond die Gezeiten über die Ozeane der Erde zog,
zerrte auch die Erde am felsigen Untergrund des Mondes. Seit
ihrer Entstehung drifteten die Zwillingswelten langsam
auseinander – nur ein paar Zentimeter im Jahr, aber
immerhin hatte sich der Mond im Laufe der Zeit ein beachtliches
Stück von der Erde entfernt.
Josh verstand im Wesentlichen, was geschehen war. »Dies
hier ist die Zukunft! Nicht das einundzwanzigste Jahrhundert.
Sondern eine ferne Zukunft! Millionen Jahre weit weg,
möglicherweise…!«
Bisesa wanderte langsam umher und starrte hinauf zu diesem
verwirrenden Himmel. »Ihr versucht, uns etwas zu sagen,
nicht wahr? Diese öde, vom Krieg heimgesuchte Gegend –
wo sind wir hier? In London? New York? Moskau? Beijing? Lahore?
Und warum bringt ihr uns hierher an genau diesen Ort und zeigt
uns eine Sonnenfinsternis…? Hat die ganze Sache etwas mit
der Sonne zu tun?« Sie spürte die Hitze, den Staub und
den Durst. Sie fühlte sich verunsichert und geriet mit einem
Mal in unbändige Wut. »Hört endlich auf, mich mit
Ratespielen aus Spezialeffekten einzudecken! Redet mit mir, zum
Geier! Was kommt auf uns zu?«
Wie als Antwort tauchte blitzartig ein Auge, das zumindest so
groß war wie das Auge des Marduk, direkt über Bisesas
Kopf aus dem Nichts auf; sie konnte sogar spüren, wie ihr
die Luft, die es auf dem Weg in ihre Realität
verdrängte, über das Gesicht strich.
Sie griff nach Joshs Fingern. »Aha, schon geht es wieder
los… Bitte nichts aus dem Waggonfenster
strecken…«
Er sah sie mit verständnislosem Blick an; der Sand klebte
an seinem schweißnassen Gesicht. »Bisesa?«
Es war ihr sofort klar: Er konnte das Auge nicht sehen! Diesmal war es gekommen, um sie zu holen – sie
allein, ohne Josh!
»Nein!«, sie packte Josh am Arm. »Das
könnt ihr nicht tun, ihr brutalen Schweine!«
Aber Josh hatte schon verstanden. »Bisesa, es ist in
Ordnung.« Er legte ihr einen Finger ans Kinn, drehte ihr
Gesicht zu sich und küsste sie auf den Mund. »Wir sind
weiter gekommen, als ich mir je erträumt, als ich je
für möglich gehalten hätte. Vielleicht lebt unsere
Liebe in einer anderen Welt weiter – und vielleicht werden
wir am Ende aller Zeiten wieder vereint sein…« Er
lächelte. »Es reicht.«
Das Auge über Bisesa nahm Trichterform an und wurde dann
zu einem Korridor am Himmel. Schon huschten Lichtfunken über
das Land, sammelten sich um Bisesas Beine und wirbelten hoch.
Sie hielt sich an Josh fest und schloss die Augen. Hört mir zu! Ich habe alles getan, was ihr gewollt habt.
Ich will nur eines von euch: Lasst ihn nicht hier, um allein zu
sterben – schickt ihn heim, zurück zu Abdi. Mehr will
ich nicht, nur das, ich bitte euch…
Ein heißer Wind erhob sich, brauste vom Boden hoch und
in den Schacht, der sich da oben glänzend auftat. Etwas zog
an ihr und zerrte sie aus Joshs Armen. Sie kämpfte dagegen
an, aber Josh ließ sie los.
Im nächsten Moment wurde sie hochgehoben – sie
blickte tatsächlich hinab auf ihn!
Er lächelte immer noch. »Du siehst aus wie ein
Engel, der zum Himmel steigt! Adieu…!
Adieu…!« Das alles versengende, wunderbare Licht
sammelte sich wieder rund um Bisesa, und im letzten Moment sah
sie, wie er in einen mit Drähten und elektronischen Teilen
übersäten Raum zurückstolperte, wo ein dunkler
Mann auf ihn zustürzte, um ihn aufzufangen.
Ich danke euch.
Ein Paukenschlag.
{ 46 }
DAS KLAMMERCHEN
Der Morgen graute, und die Sucherin schreckte aus dem Schlaf
hoch, die Augen schlagartig weit offen.
Zum ersten Mal seit Jahren war kein Netz zwischen ihr und dem
Himmel. Sie schrie auf und warf sich schützend über
ihre Tochter.
Als sie das nächste Mal ein Auge öffnete, war immer
noch kein Netz da – nichts als nackter Boden rundum, ein
paar Fußspuren und aufgescharrte Stellen. Die Soldaten
waren verschwunden. Sie hatten den Käfig entfernt.
Sie war frei.
Sie setzte sich auf. Das Klammerchen erwachte mit einem leisen
Brummen – und rieb sich die Augen. Die Sucherin blickte
sich um. Die
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