Die Zeit-Odyssee
würden sie in
der Lage sein, auf Wellenlängen, für die ihre normalen
Geräte nicht geeignet waren, Signale aufzufangen oder sogar
Botschaften zu senden. Gewohnheitsmäßig hatte Musa
gemurrt, als Sable das Funkgerät an die Energieversorgung
der Sojus anhängen wollte, was in der Folge wiederum
zu einem hitzigen Streit ausgeartet war; doch diesmal hatte Kolja
sich eingemischt: »Die Chance ist zwar gering, aber es
könnte funktionieren. Es kann doch nicht schaden,
oder…«
Kolja beugte sich vor und drückte gegen das Ventil des
Wasserbehälters. Ein zentimetergroßes Kügelchen
erschien und schwebte auf sein Gesicht zu. Im Bewusstsein, dass
Musa ihn lauernd beobachtete – es würde Krach geben,
wenn er auch nur einen einzigen Tropfen verschüttete!
–, riss Kolja den Mund weit auf. Das Wasser landete auf
seiner Zunge, und er behielt es so lange wie möglich im
Mund, um die Frische zu genießen, ehe er es schluckte. Von
allen Rationierungsvorschriften, die Musa erlassen hatte, war die
mit dem Wasser am schwersten zu ertragen. Hier verfügten sie
über keine dieser Recyclinganlagen, wie sie auf der Station
in Betrieb waren; da die Sojus ausschließlich für die
kurz dauernden Flüge zwischen Erde und Raumstation
vorgesehen war, hatte sie nur einen kleinen Wassertank.
Typischerweise hatte Sable heftig protestiert. »Selbst wenn
du in der Wüste bist, rationierst du das Wasser nicht! Du
trinkst es runter nach Bedarf! Anders geht’s
nicht…!« Richtig oder falsch – das Wasser ging
jedenfalls zu Ende.
Kolja holte einen Zahnreiniger aus einem Behälter an der
Wand. Dies war nichts anderes als ein Stück mit
geschmacksintensiver Zahnpasta imprägnierter Musselin, das
man über den Finger streifte, um damit den ganzen Mund zu
bearbeiten. Kolja benutzte es sorgfältig und saugte auch
noch das letzte bisschen Minzaroma aus dem Stofffetzchen.
Irgendwie schien der Geschmack den Durst ein wenig zu
löschen.
Und so begann sein Tag. Er konnte sich nicht waschen, denn die
weichen Waschlappen, die sie üblicherweise benutzten, um
Haar und Körper zu reinigen, waren ihnen schon lange
ausgegangen. Zweifellos rochen sie schon wie die Kosakeneier da
oben – aber wenigstens alle drei gleich.
Während Musa fortfuhr, trübselig ins Ungewisse da
draußen zu rufen, wandte Kolja sich seinem
selbstauferlegten Arbeitsprogramm zu: dem Studium der Erde.
In den langen Stunden, die Kolja bereits im Weltraum
zugebracht hatte, war es ihm immer ein großes
Vergnügen gewesen, die Erde zu beobachten. Wie die Sojus
jetzt, kreiste auch die Raumstation nur ein paar hundert
Kilometer über der Erdoberfläche, und so empfand er den
Planeten keineswegs als isoliert und verletzlich – ein
Gefühl, das die Marsreisenden angeblich überfiel, wenn
sie zurückblickten auf die kleine blaue Insel, wo sie
geboren waren. Für Kolja war die Erde riesig – und
leer.
Die Hälfte jeder Umkreisung führte ihn über die
große Wasserwüste des Pazifiks, eine himmelblaue
Weite, die nur von den Kielwassern gelegentlicher Schiffe oder
staubkorngroßen Inseln unterbrochen wurde. Selbst die
Landmassen waren zum Großteil menschenleer: Über Asien
und Nordafrika erstreckten sich Wüstengebiete, in denen
nichts sich regte außer dem Rauch seltener Lagerfeuer. Die
Lebensbereiche des Menschen lagen in erster Linie an Küsten
und entlang der Flüsse. Doch selbst Städte waren aus
dem Orbit schwer auszumachen; wenn Kolja nach Moskau, Paris,
London oder New York Ausschau hielt, sah er zumeist nur graues
Gewölk, das nahtlos ins Grün-Braun der ländlichen
Umgebung überging.
Es war daher nicht die Verletzlichkeit der Erde, die sich ihm
einprägte, sondern ihre Unermesslichkeit; und es war nicht
die grandiose Eroberung des Planeten durch den Menschen, die ins
Auge fiel, sondern der winzige Teil dessen, was der Mensch selbst
in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts tatsächlich
davon in Besitz genommen hatte.
Aber all das bezog sich auf die Zeit vor der Metamorphose.
Und Kolja hielt an dem fest, was er kannte. Die Geometrie der
Erde hatte sich, vom niedrigen Orbit aus betrachtet, nicht
verändert. Alle neunzig Minuten konnte er zusehen, wie die
Sonne in verblüffendem Tempo durch die Schichten der
Atmosphäre aufstieg und das Licht in weichen Bögen von
Dunkelrot über Orange in Gelb überging. Form und Lage
der Kontinente, Wüsten, die Anordnung der höchsten
Gipfel in den Bergketten
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