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Die Zeit-Odyssee

Die Zeit-Odyssee

Titel: Die Zeit-Odyssee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur C. Clarke , Stephen Baxter
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Vorstellungskraft, um mit
dem, was sie da sahen, zu Rande zu kommen. Oder vielleicht hatten
sie das uneingestandene Gefühl, je mehr man darüber
sprach, desto realer wurde die Sache.
    Kolja gab sich Mühe, analytisch zu bleiben. Die
außen angebrachten Sensoren der Sojus funktionierten
einwandfrei. Darauf angelegt, das Äußere der
Raumstation zu fotografieren, verfügte der
Sensorenbehälter über praktisch unbegrenzte
elektronische Kapazität für die Bildspeicherung. Es war
nicht schwer gewesen, den Behälter so auszurichten, dass die
Sensoren nun nach unten zur Erde zeigten. Die Flugbahn der Sojus
– auf den Spuren der verschwundenen Raumstation –
bestrich natürlich nicht den ganzen Planeten, aber sie zog
weite Schleifen vom Äquator weg, und so erfasste das
Kameraauge bei jeder Erdumdrehung neue Teilstücke dieser
Welt. Damit würde Kolja in der Lage sein, vom Orbit aus den
Zustand der Erde fotografisch zu dokumentieren, was den breiten
Streifen nördlich und südlich des Äquators
betraf.
    Während die Sojus weiter ihre einsamen Kreise zog,
versuchte Kolja also, seine vorgefassten Meinungen über Bord
zu werfen, seine Emotionen und Ängste zu beherrschen und
einfach nur das aufzuzeichnen, was er sah und was da war. Aber
der Gedanke war seltsam, dass irgendwo im enormen elektronischen
Gedächtnis des Sensorenbehälters die unmittelbar nach
dem Abkoppeln entstandenen Bilder der Raumstation gespeichert
waren – Bilder einer Raumstation, die sich mittlerweile auf
rätselhafte Weise in Nichts aufgelöst hatte: ein
Verlust, der nur eine winzige Kadenz in der sich nunmehr
offenbarenden Symphonie von beängstigenden
Merkwürdigkeiten war.
    Sable verlangte zu erfahren, welchen Sinn Koljas beharrliche
Aufzeichnungen haben sollten; im Gegensatz dazu hatte ihr Projekt
mit dem Amateurfunkgerät zum Ziel, eine Verbindung
herzustellen, die ihnen das Leben retten konnte. Welchen Nutzen
hatten alle diese Bilder? Aber Kolja verspürte keine
Notwendigkeit, sich zu rechtfertigen; ganz gewiss war niemand
sonst in der Lage, solche Aufnahmen zu machen – und die
Erde, fand er, verdiente ein Zeugnis für ihre
Metamorphose.
    Außerdem waren, soweit er es beurteilen konnte, seine
Frau und seine Söhne tot. Und wenn das stimmte, was hatte
dann überhaupt noch Sinn?
    Das Klima da unten schien nicht zur Ruhe zu kommen.
Große Tiefdrucksysteme strichen über die Ozeane,
drängten sich aufs Festland und verursachten gigantische
elektrische Entladungen. Vom Weltraum aus betrachtet waren diese
Stürme wahre Wunderdinge: Blitze zuckten zwischen den
Wolkenbänken hin und her, verzweigten sich und starteten oft
Kettenreaktionen, die sich über ganze Kontinente
hinwegziehen konnten. Und am Äquator bauten sich riesige
Wolkengebirge auf, die Kolja entgegenwuchsen; manchmal hatte er
das Gefühl, die Sojus müsste in diese Türme aus
Gewitterwolken hineinstürzen. Vielleicht waren Luft und
Meere ebenso aufgewühlt wie das Land? Je mehr Tage
vergingen, desto schlechter wurde die Sicht. Aber
merkwürdigerweise verbesserte das immer undeutlicher
werdende Bild da unten Koljas Seelenzustand – wie bei einem
Kind, dachte er, das glaubt, alle bösen Dinge wären
weggewischt, sobald es sie nicht mehr sehen kann.
    Wenn er meinte, es nicht mehr ertragen zu können, wandte
Kolja sich seinem Zitronenbäumchen zu. Der Baum, klein wie
ein Bonsai, war das Objekt eines seiner Experimente auf der
Raumstation gewesen. Nach dem ersten Tag in der Sojus hatte er
ihn von der Verpackung befreit, und seither stand er auf dem
kleinen Platz unter seinem Sitz. Eines Tages hätten die
Menschen an Bord der großen Raumschiffe auf ihren langen
Reisen zwischen den Welten Obstbäume halten können, und
Kolja wäre als einer der Pioniere einer neuen Art von
Pflanzenhaltung außerhalb der Erde in die Geschichte
eingegangen. Doch diese Chance, so schien es, war nun für
immer dahin – nur der kleine Baum war noch da. Wann immer
die Sonnenstrahlen durch die Fenster fielen, hielt Kolja ihn ins
Licht, und er besprühte die kleinen Blätter auch mit
kostbarem Wasser aus seinem Mund. Wenn er die Blätter
zwischen den Fingern rieb, roch er den intensiven Duft, und der
erinnerte ihn an zu Hause.
    Die Fremdartigkeit dieser transformierten Welt unter ihrem
Tümpel aus Luft bildete einen scharfen Kontrast zu der engen
Wohnküchenatmosphäre der Sojus, und so erschien den
drei Menschen darin bald alles, was sie da

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