Die Zeit-Odyssee
viel
einfacher: Dieser König war das Geschöpf seines alles
überstrahlenden Vaters – kein Wunder, dass der neue
König danach strebte, die ehrgeizigen Ziele des Vaters in
den Schatten zu stellen und ihn auf diese Weise zu
überragen.
Schließlich jedoch hatten die von jahrelangen
Kriegszügen erschöpften Truppen am Fluss Beas
rebelliert, und selbst der Gott-König konnte nicht weiter.
Eumenes glaubte fest daran, dass der Instinkt der Männer
richtig war. Wenn es reichte, reichte es: Sie wären gut
beraten, das zu bewahren, was sie bereits besaßen.
Außerdem beschäftigte Eumenes –
unterschwellig und tief im Innern seines scharfen Intellekts
– die Abwägung seines eigenen Vorteils. Am Hofe des
Königs war er stets Rivalitäten ausgesetzt gewesen,
dazu kam die Abneigung der Mazedonier gegen die Griechen, die
Verachtung der kämpfenden Truppen für die
»Schreiber« und Eumenes’ schiere Kompetenz; das
alles zusammengenommen reichte aus, ihm viele Feinde zu machen.
Besonders Hephaistion war bekannt eifersüchtig auf jeden,
der das Vertrauen seines königlichen Liebhabers genoss, und
des Öfteren hatten die Spannungen in der Umgebung des
Königs schon tödlich geendet. Aber Eumenes hatte
überlebt – und er war selbst nicht ohne eigene
Ambitionen. Nun, da sich der Schwerpunkt der Herrschaft des
Königs von der Eroberung hin zu politischer und
wirtschaftlicher Konsolidierung verlagerte, mochten
Eumenes’ anspruchsvollere Fähigkeiten immer gefragter
werden, und er hatte vor, chancenreich platziert zu sein, um
seine eigene Stellung über jene eines einfachen Kanzlers
hinauszuheben.
Nach diesem Rückschlag am Beas war dem König dennoch
eine große Ambition geblieben. Immer noch tief in Indien
baute er eine riesige Flotte, die den Indus hinab und dann die
Küste des Persischen Golfes entlang segeln sollte, mit dem
Ziel vor Augen, eine neue Handelsroute zu erschließen, die
sein Imperium noch weiter festigen würde. Er hatte seine
Streitkräfte geteilt: Hephaistion sollte die Flotte ins
Mündungsdelta bringen, gefolgt vom Tross und den erbeuteten
Elefanten des Königs. Eumenes und sein Stab waren mit der
Flotte gereist; der König selbst war zurückgeblieben,
um gegen rebellierende Stämme in seiner neuen indischen
Provinz ins Feld zu ziehen.
Alles war gut gegangen, bis der König ein Volk namens
Malloi und ihre Festungsstadt Multan angegriffen hatte. Mit
gewohntem Wagemut hatte der König persönlich die
Attacke angeführt – und dabei einen Pfeil in die Brust
abbekommen. Die letzte Meldung, die bei Hephaistion eingetroffen
war, hatte angekündigt, dass der verwundete König auf
einem Schiff den Fluss hinab transportiert werden sollte, um bei
der Flotte zu sein, während seine Armee später
nachkommen würde.
Aber die Meldung lag schon Tage zurück. Langsam machte
sich der Eindruck breit, das welterobernde Heer weiter oben am
Fluss hätte sich in Luft aufgelöst. Auch der Himmel war
voller unvorstellbar böser Omen: Unter den Männern gab
es ein Raunen, sogar die Sonne sei ins Taumeln geraten und
über den Himmel gestolpert, sie selbst hätten es
gesehen… Solch seltsame Vorzeichen konnten nur ein
gewaltiges und schreckliches Ereignis ankündigen – und
was konnte das anderes sein als der Tod des Gott-Königs?
Eumenes glaubte mehr an harte Tatsachen als an böse Omen,
aber es fiel ihm schwer, diese Information – oder das, was
an Informationen fehlte – einzuschätzen, und die
Unruhe wuchs und wuchs.
Dennoch bedeutete die nicht enden wollende Routine der
Verwaltung einer Armee eine Ablenkung von der Unsicherheit der
Situation. Dazu mussten Eumenes und Hephaistion sich mit
Streitfällen beschäftigen, die nicht auf niedrigerer
Ebene entschieden werden konnten. Heute wandten sie sich dem Fall
eines Divisionskommandeurs der »Gefährten zu
Fuß« zu, der nach dem Entdecken seiner
Lieblingsprostituierten im Bett eines anderen Offiziers diesem
mit seinem Dolch die Nase abgehackt hatte.
»Ein übler Fall«, kommentierte Eumenes,
»dazu angetan, ein schlechtes Beispiel
abzugeben.«
»Aber er wiegt weitaus schwerer. Dies war eine
schändliche Tat.« Allerdings; eine solche
Verstümmelung als Strafe war beispielsweise auf Befehl des
Königs einem Mörder des besiegten Darius, des
Großkönigs von Persien, zugemessen worden. »Und
ich kenne diese Männer«, fuhr Hephaistion fort.
»Den Gerüchten zufolge waren sie Liebhaber, und das
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