Die Zeit-Odyssee
weiter. Sie
schliefen im Sattel, wobei immer einer oder zwei wach blieben und
den kleinen Zug anführten. Für Sable war das
Stoßen und Rütteln des Karrens zu viel, es hielt sie
wach; Kolja hingegen, der zwei schlaflose Nächte hinter sich
hatte und erschöpft war, den Effekt der nervlichen
Anspannung spürte und den die ungewohnt sauerstoffreiche
Luft der Steppe einfach unter sich begrub, schlief von
Sonnenuntergang bis zum frühen Morgen.
Dennoch hielten die Reiter gelegentlich an: Wenn sie
plötzlich vor abrupten, wie mit dem Lineal gezogenen Grenzen
standen zwischen braunem, ausgedörrtem Steppenboden und
hellgrünen Grasflächen oder Wiesen, auf denen verstreut
sanft dahinwelkende Blumen wuchsen – und noch seltsameren
Flecken, wo halb geschmolzene Schneewächten im tiefsten
Schatten lagen.
Für Kolja lag es auf der Hand, dass diese verdächtig
geraden Linien das Aneinandergrenzen von zwei verschiedenen
Zeitabschnitten markierten, und dass diese Steppe aus einer
Unzahl von Fetzchen zusammengestückelt war, die aus
verschiedenen Jahreszeiten stammten – und aus verschiedenen
Zeitaltern. Aber so wie der Schnee in der Wärme schmolz,
verwelkten auch die Frühlingsblumen rasch, und der
Landstreifen mit dem Sommergras bekam im Nu braune Flecken.
Vielleicht würde sich im Laufe eines ganzen
Jahreszeitenzyklus alles einpendeln und anpassen, aber er hatte
das Gefühl, ein Jahr würde nicht ausreichen, um aus
diesem zeitversetzten Stückwerk einer alten Ökologie
eine neue zu schaffen.
Selbstverständlich begriffen die Mongolen überhaupt
nichts mehr, und selbst die Pferde wieherten und bockten, wenn
sie diese beunruhigenden Grenzlinien überqueren sollten.
Einmal hielten die sichtlich verblüfften Reiter an einer
Stelle an, die genauso leer und gesichtslos war wie der Rest der
Steppe; vielleicht, spekulierte Kolja, hatte es hier zuvor eine
Pferdestation gegeben, und die Reiter konnten sich nicht
erklären, wieso sie sie nicht gefunden hatten. Die Station
war verschwunden – nicht im Raum, sondern in der Zeit. Die
Nomaden, offenbar ein praktisch denkendes Volk, zerbrachen sich
nicht lange den Kopf: Nach einer kurzen, mit viel Achselzucken
geführten Diskussion machten sie sich wieder auf den Weg,
doch nunmehr in gemäßigterem Tempo. Anscheinend hatten
sie, da sie sich auf das laufende Wechseln der Pferde nicht mehr
verlassen konnten, beschlossen, die Pferde zu schonen.
Am Nachmittag des zweiten Tages begann sich der Charakter der
Landschaft zu verändern; sie wurde hügeliger und
abwechslungsreicher. Jetzt ging die Fahrt durch flache
Täler, durch Furten seichter Flüsse und vorbei an
niedrigen Lärchen- und Kieferngehölzen. Das war eine
viel ansprechendere Gegend, und Kolja war froh, die
bedrückende, ewig gleiche Unendlichkeit der Steppe hinter
sich zu lassen. Selbst die Mongolen schienen fröhlicher zu
werden. Als sie sich durch ein kleines, lichtes Wäldchen
kämpften, beugte sich ein junger Mann mit groben
Gesichtszügen hinab und pflückte sich eine Hand voll
wilder Geranien, die er an seinen Sattel steckte.
Dieses Gebiet war relativ dicht besiedelt. Sie kamen an vielen
Jurtendörfern vorbei, die gelegentlich von beachtlicher
Ausdehnung waren und über denen Rauchfahnen, vom Wind in
eine Richtung geweht, zum Himmel stiegen. Es gab sogar so etwas
wie Straßen – oder wenigstens stark benutzte und tief
gefurchte Karrenwege. Dieser Teil des Mongolenreiches schien fast
intakt durch die Diskontinuität gekommen zu sein, auch wenn
er mit Flicken durchsetzt war, die nicht zum Rest passten.
Sie langten an einem breiten, trägen Fluss an. Hier gab
es eine Fähre – ein Floß, von Seilen
geführt, die über den Fluss gespannt waren. Das
Floß war groß genug, um sämtliche Reiter mit
ihren Pferden, die beiden Kosmonauten und sogar den Karren auf
einmal aufzunehmen und zu transportieren.
Am anderen Ufer ging es den Fluss entlang weiter nach
Süden. Kolja sah an einem Glitzern, dass sich noch ein
großer Fluss durch die Landschaft schlängelte; das
Ziel der Reise schien ein Zusammenfluss zweier mächtiger
Ströme zu sein. Den Nomaden war der Weg sichtlich
bekannt.
Doch am Fuß eines Hügels, dicht an einer weiten
U-förmigen Schleife des Flusses, stießen sie
plötzlich auf eine Steintafel, die mit einer langen
Inschrift versehen war. Die Nomaden blieben stehen und starrten
die Tafel an.
»Die haben sie noch nie gesehen, das ist wohl
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