Die Zeit-Odyssee
»ein Geschenk vom Himmel. Wenn wir weg sind, dann
ziehst du an diesem Knebel, ungefähr so. Kapiert?« Sie zeigte den Handgriff ein paarmal vor, bis
klar war, dass der Mongole verstanden hatte. Daraufhin verbeugte
sie sich tief, Kolja folgte ihrem Beispiel, und sie machten es
sich auf dem Karren so bequem wie möglich.
Die Reiter setzten sich in Bewegung; einer von ihnen
führte die vor den Karren gespannten Tiere an einem Seil,
und das Gefährt rumpelte los. »Schönen Dank noch
für die Hammelkeule, Kumpel!«, schrie Sable
zurück.
Kolja betrachtete sie nachdenklich. Nach einem Anfang in einer
äußerst schwachen und verwundbaren Position schien sie
allmählich und Schritt für Schritt die Kontrolle
über die ganze Situation zu erlangen. In den Tagen seit der
Landung hatte Kolja immer wieder den Eindruck gehabt, als
würde sie ihre Angst durch nichts als schiere Willenskraft
aus sich herausbrennen – doch angesichts der geballten
Energie, der rücksichtslosen Zielstrebigkeit, mit der sie
vorging, fühlte Kolja sich dennoch nicht recht wohl.
»Ganz schön kaltblütig, alle Achtung.«
Sie grinste. »Ohne nötige Härte schafft es
eine Frau nicht an die Spitze des Astronautenchors. Jedenfalls
finde ich es nicht übel, nach dieser lausigen Ankunft
wenigstens mit etwas mehr Stil abzureisen…«
Ein lauter Knall ertönte, und hinter ihnen brandete
erschrockenes Gebrüll auf. Skakatai hatte die
Reißleine des Einmannfloßes gezogen, und nun starrten
die Mongolen mit offenen Mäulern und zu Tode erschrocken auf
dieses hellorange Ding, das krachend aus dem Nichts entstanden
war. Und noch ehe das Dorf hinter dem Horizont verschwand, sah
Kolja zu, wie die Kinder vergnügt auf dem aufgeblasenen
Floß herumhüpften.
Die Reisegesellschaft legte in kurzer Zeit beachtliche
Strecken zurück. Stundenlang hielten die Reiter ihre Pferde
in Trab – ein Tempo, von dem Kolja angenommen hätte,
es würde die Tiere rasch erschöpfen, aber offenbar war
die hiesige Züchtung auf eine solche Befähigung
ausgelegt. Die Mongolen aßen im Sattel und gönnten
auch ihren Passagieren keine Rast, um ihren Reiseproviant zu
verspeisen. Es gab nicht mal Pinkelpausen, und Sable und Kolja
lernten bald sich vorzusehen, wenn der Urinschwall eines Reiters
vom Wind auf sie zugetragen wurde.
Im Laufe der Fahrt bemerkte Kolja des Öfteren ein
Glitzern in der Ferne, das reglos in der Luft schwebte, und er
fragte sich, ob es sich dabei um weitere Exemplare dieser
»Augen« handelte, die Casey aus Indien beschrieben
hatte. Falls ja, waren die Augen dann ein weltweit auftretendes
Phänomen? Er hätte liebend gern eines davon eingehender
betrachtet, aber der Weg des Karrens führte nie in ihre
Nähe, und die Mongolen zeigten kein Interesse daran.
Bevor die Sonne im Zenith stand, machten sie Halt an einer
Zwischenstation. Es war nicht mehr als ein wirrer Haufen einiger
Jurten mitten in der Leere der Steppe, aber vor den Jurten stand
eine Reihe Pferde angebunden, und weit draußen erblickte
Kolja eine weitere Herde, die sich mit völliger
Lautlosigkeit – bewirkt durch die Entfernung –
über das karge Grasland bewegte. Als die Reisegesellschaft
eintraf, läuteten die Reiter ein Glöckchen, und die
Bewohner der Station stürzten ins Freie. Die Reiter
verhandelten eilig mit den Leuten, wechselten die Pferde und
waren schon wieder unterwegs.
»Hätte ’ne Pause vertragen«, knurrte
Sable. »Die Stoßdämpfer von diesem Ding sind
beschissen.«
Kolja starrte auf die Station zurück. »Das muss
wohl zum Yam gehören, denke ich.«
»Zum was?«
»Eine gewisse Zeit lang beherrschten die Mongolen ganz
Eurasien von Ungarn bis zum Südchinesischen Meer. Sie
hielten die Verbindung mit schnellen Kurieren, die auf einem Netz
von Routen und Stützpunkten für den Pferdewechsel, dem Yam, unterwegs waren. Die Römer hatten ein
ähnliches System. Ein Kurier konnte auf diese Weise zwei-
bis dreihundert Kilometer pro Tag zurücklegen.«
»Aber das hier ist ja nicht unbedingt eine Straße,
wir rumpeln über offenes Gelände! Also wie haben diese
Kerle die Stelle gefunden, wo sie die frischen Pferde
kriegen?«
»Mongolen lernen reiten, bevor sie laufen
können«, antwortete Kolja. »Um sich in dieser
unendlichen Ebene zurechtzufinden, müssen sie hervorragende
Beobachter sein. Vermutlich verschwenden sie keinen einzigen
bewussten Gedanken daran.«
Selbst als die Nacht anbrach, ritten die Mongolen
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