Die Zeit-Odyssee
werdet in der gemeinsamen Sprache sprechen.«
Sie entschuldigten sich beide, und Kolja wiederholte eine
gereinigte Version der vorangegangenen Diskussion.
Mit zwei Fingern zog Yeh-lü das Messer aus der
seidenglänzenden Weltkarte und zupfte an den zerfransten
Rändern des Schnittes. Zu Sable gewandt sagte er: »Du
hast mich nicht überzeugt. Vielleicht könnten wir das
pochende Herz der neuen Welt mit unserer Hand ergreifen. Aber wir
können den Griff unserer Faust nicht halten, wenn wir
verhungern.«
Sie schüttelte den Kopf. »Dann bringe ich das vor
den Khan. Er ist sicher nicht so ängstlich, dass er eine
Gelegenheit wie diese vorübergehen ließe.«
Yeh-lüs Gesichtsausdruck wurde abweisend – er war
so nahe daran, seiner Verärgerung Ausdruck zu verleihen, wie
Kolja ihn noch nie gesehen hatte. »Sendbotin des Himmels,
noch hast du nicht das Ohr des Dschingis Khan!«
»Na warte bloß ab!«, sagte Sable auf
Englisch und grinste unverschämt.
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DIE KONFERENZ
Sie folgten Alexanders Ruf und machten sich auf den Weg zum
Zelt des Königs: Hauptmann Grove und seine Offiziere,
Bisesa, Abdikadir, Cecil de Morgan in seiner Funktion als
Dolmetscher und Ruddy und Josh, die diese erstaunliche
Besprechung in ihren Notizbüchern festhalten würden.
Auf mazedonischer Seite würden Alexander selbst, Eumenes,
Hephaistion, Philipp, der Arzt des Königs, und eine Unzahl
Höflinge, Berater, Diener und Pagen teilnehmen.
Der Rahmen, in dem die Konferenz stattfinden sollte, war
prachtvoll. Alexanders offizielles Zelt, das man den ganzen Weg
vom Delta herauf mitgeschleppt hatte, war beeindruckend
groß; das über und über geschmückte Dach
wurde von goldenen Säulen gestützt, zwischen denen der
goldene Thron des Königs und auf silbernen Füßen
Sofas für die Besucher standen. Aber die Atmosphäre
wirkte gespannt. Es mussten gewiss an die hundert Soldaten sein,
die wachsam entlang der Zeltwände Aufstellung genommen
hatten – Fußsoldaten, die
»Schildträger« genannt wurden und in
Scharlachrot und Königsblau gekleidet waren, und die
königliche Leibwache aus persischen
»Unsterblichen« in wunderschön bestickten,
wenngleich unpraktischen langen Tuniken.
Eumenes hatte, um mögliche Reibungsflächen von
vornherein zu glätten, Bisesa über das Protokoll in
Kenntnis gesetzt, das in Gegenwart des Königs zu beachten
war. Und so begrüßten die Besucher aus der Zukunft
Alexander mit der Proskynesis, wie die griechische
Bezeichnung für eine persische Form der Huldigung lautete,
die aus einer tiefen Verbeugung und einem von ferne angedeuteten
Kuss für den König bestand. Wie nicht anders zu
erwarten, war Abdikadir die Sache äußerst unangenehm,
aber Hauptmann Grove und seine Offiziere hatten damit nicht das
geringste Problem. Offensichtlich waren diese am
äußersten Rand ihres eigenen Reiches festsitzenden und
von unbedeutenden Prinzen, Maharadschas und Emiren umgebenen
Briten daran gewöhnt, exzentrische lokale Bräuche zu
respektieren.
Doch abgesehen davon schien Abdikadir sich enorm zu
amüsieren. Bisesa hatte in ihrem Leben noch wenige Menschen
kennen gelernt, deren Denkweise nüchterner war als jene von
Abdi, aber im Moment gab er sich sichtlich der angenehmen
Vorstellung hin, in diesen prächtigen Mazedoniern seine
Vorfahren zu sehen.
Die Gesellschaft ließ sich auf den herrlich weichen
Sitzbänken nieder, Pagen und Diener reichten Speisen und
Getränke, und die Konferenz begann. Gezwungenermaßen
war die Übersetzung, die über griechische Gelehrte und
de Morgan abgewickelt wurde, zeitraubend und ein gelegentliches
Hindernis. Aber langsam und stetig kam man doch weiter –
unter Zuhilfenahme von Landkarten, Zeichnungen und sogar
Schriftzeichen auf mazedonischen Wachstafeln oder auf
Papierblättern, die Josh und Ruddy aus ihren
Notizbüchern rissen.
Begonnen wurde mit einem Austausch von Informationen.
Alexanders Leute waren nicht überrascht von dem schwebenden
Auge in Jamrud, das nach wie vor über dem Exerzierplatz
wachte, denn seit »dem Tag, an dem die Sonne über den
Himmel stolperte«, wie die Mazedonier sagten, waren ihre
Kundschafter diesen Kugeln überall im Industal begegnet. Wie
die Briten hatten sich auch die Mazedonier rasch an diese lautlos
schwebenden Beobachter gewöhnt und behandelten sie auch
genauso respektlos.
Der praktisch denkende Eumenes war weniger an mysteriösen
bösen Blicken aus der Luft
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