Die Zeit-Odyssee
mit einem General, der das Kommando hatte.
Die Treiber arbeiteten sich auf einen Mittelpunkt vor, wobei wie
bei Manövern der Hauptstreitmacht Kundschafter
vorausgeschickt wurden, während auf beiden Seiten
flankierende Einheiten vorrückten. Trompeten und Flaggen
wurden eingesetzt, um die Kommunikation zu ermöglichen, und
sobald der Kreis geschlossen war, wurde er mit größter
Präzision beibehalten.
Als das Treiben begann, führte Dschingis Khan
persönlich die Prozession seiner herrschaftlichen Begleiter
auf eine sanfte Erhebung in der Steppe, von wo aus man
ausgezeichnete Sicht haben würde. Die gesamte Goldene
Familie war zur Anwesenheit verpflichtet, zusammen mit Dschingis
Khans Frauen und Konkubinen, Höflingen und Dienern.
Yeh-lü gehörte zum herrschaftlichen Zug und erlaubte
Kolja, Sable und ihrem Dolmetscher, sich ihm
anzuschließen.
Die Größenordnung der Übung war beeindruckend.
Als er seinen Platz auf dem flachen Hügel einnahm, konnte
Kolja auf der Ebene vor sich nur zwei militärische Einheiten
in Formation erkennen; der Rest des Heeres war irgendwo hinter
dem Horizont. Die Rösser der Reiter unten waren unruhig, die
Standarten flatterten im Wind.
Die Überfülle an Speisen, Getränken und
Bequemlichkeit, vorbereitet für die herrschaftliche
Gesellschaft, verblüffte Kolja. Während alles darauf
wartete, dass die Treiber ihr Werk vollendeten, erfreute sich die
Goldene Familie an Vorführungen der Falkner, und dann
präsentierte ein Mann einen mächtigen Adler auf einem
dicken Falknerhandschuh; als der Vogel die Flügel streckte,
war ihre Spannweite größer als der Mann, auf dessen
Arm der Adler saß. Ein Lamm wurde freigelassen, und der
Vogel stürzte sich mit einer Wildheit auf sein Opfer, die
den Mann von den Füßen riss. Alles zur ausgelassenen
Freude der illustren Gesellschaft.
Nach der Falknerei kamen die Pferderennen. Wie alles bei den
Mongolen zog sich auch dieses über lange Strecken dahin, und
von Koljas Position aus war nur der Zielabschnitt zu sehen. Die
Jockeys, allesamt Kinder – sicher nicht älter als
sieben oder acht –, ritten ihre normal großen Pferde
barfuß und ohne Sattel wie die Teufel. In einer riesigen
Staubwolke gingen die Reiter knapp hintereinander ins Ziel, und
die Familie des Khans warf Gold und Juwelen auf die Sieger
hinab.
Koljas Meinung nach war dies alles nur ein weiteres Beispiel
für die mongolische Mischung aus Barbarentum und
vulgärer Protzerei – oder, wie Sable zu sagen pflegte:
»Diese Kerle haben wirklich keinen Geschmack!« Aber
selbst Kolja konnte nicht umhin, die ruhige, gelassene
Ausstrahlung des Khans selbst anzuerkennen.
Als Sohn eines Stammeshäuptlings geboren, war er
militärisch ausgebildet, politisch klug, zielstrebig und
unbestechlich. Sein eigentlicher Name war Temudschin, was
»Schmied« bedeutete; der ihm verliehene Name
Dschingis Khan hieß »Beherrscher der Welt«. Ein
Jahrzehnt des Bruderkrieges hatte vergehen müssen, ehe es
Temudschin gelungen war, die Mongolen zum ersten Mal seit
Generationen zu einer Nation zu vereinigen, und er zum
»Herrscher über alle Stämme, die in Filzzelten
leben« wurde.
Die Mongolenheere bestanden fast ausschließlich aus
Berittenen – höchst beweglich, perfekt ausgebildet und
schnell. Jagden und Kriegszüge gegen alles, was auf der
Steppe lebte, hatten im Laufe vieler Menschenalter den Kampfstil
dieser Männer verfeinert. Für die sesshaften Nationen
aus Bauern und Städtern außerhalb der Steppe waren die
Mongolen schwierige Nachbarn, aber im Grunde genommen keine
Ausnahmen; seit Jahrhunderten brachte der große Land-Ozean
Asien Heerscharen an plündernden Reitern hervor, und die
Mongolen waren nur die Letzten in dieser langen, blutigen
Tradition. Doch unter Dschingis Khan wurden sie zum Inbegriff
blutiger Raserei.
Dschingis Khan hatte mit dem Feldzug gegen die drei
Völker von China begonnen. Rasch reich geworden durch
Plünderungen, wandten sich die Mongolen als Nächstes
nach Westen und griffen Chwarezm an, einen reichen, alten,
islamischen Staat, der sich über den Iran bis ans Kaspische
Meer erstreckte. Danach zogen die Mongolen weiter über den
Kaukasus in die Ukraine und auf die Krim, ehe sie sich nach
Norden aufmachten zu einem grausamen Überfall auf Russland.
Als Dschingis Khan starb, hinterließ er ein Imperium, das
in einer einzigen Generation zur vierfachen Größe des
Reiches Alexanders angewachsen war
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