Die Zeit-Odyssee
und das die doppelte
Ausdehnung jenes Gebietes besaß, das Rom je beherrscht
hatte.
Dschingis Khan jedoch blieb ein Barbar und sein einziges Ziel
Machtzuwachs und Bereicherung seiner Goldenen Familie. Und die
Mongolen waren Schlächter; ihre Unbarmherzigkeit war tief in
ihren eigenen Traditionen verwurzelt. Als unkultivierte Nomaden
hatten sie keinen Sinn für Landwirtschaft oder den Wert von
Städten – außer als lukrative Ziele für
ihre Raubzüge. Auch menschliches Leben hatte für sie
keine Bedeutung; diese Geisteshaltung kam bei jeder Eroberung zum
Tragen.
Und nun war Kolja rätselhafterweise direkt ins Herz des
mongolischen Reiches versetzt worden. Hier traten positive Seiten
der Mongolenherrschaft zu Tage, die in den
Geschichtsbüchern, geschrieben von den Nachfahren der
Besiegten, nicht aufschienen. Zum ersten Mal war Asien vereint
– von den Grenzen Europas bis zum Südchinesischen
Meer: Die Wandteppiche im Zelt des Großkhans zeigten sowohl
den chinesischen Drachen wie den persischen Phönix. Obwohl
nach dem Niedergang des Mongolenreiches diese Verbindung abriss,
waren nunmehr die Mythen von östlichen Völkern ersetzt
durch die Erinnerung – eine Erinnerung, die eines Tages
Christoph Columbus veranlassen würde, auf der Suche nach
einer neuen Route nach Cathay den Weg über den Atlantik
einzuschlagen.
Doch in den überrannten Ländern war das Leid
groß. Uralte Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht,
ganze Völker abgeschlachtet. Verglichen mit diesem
menschlichen Leid, das Kolja selbst im Pavillon des Dschingis
Khan stets vor Augen hatte, erschienen die anerkennenswerten
Aspekte seiner Herrschaft belanglos.
Sable hingegen, das merkte Kolja deutlich, ließ sich von
der zügellosen, gewalttätigen Ausstrahlung der Mongolen
in den Bann schlagen.
Endlich erschienen die Heere von Treibern brüllend und
kreischend am Horizont und näherten sich von allen Seiten
dem Jagdgelände. Läufer spannten Seile zwischen den
Einheiten und bildeten so eine Absperrung. Undeutlich in den
Staubwolken, die sie aufwirbelten, sah man eingekesselte Tiere
aufgeschreckt hierhin und dahin rennen.
Kolja starrte angestrengt in die Staubwolken. »Was sie
wohl eingefangen haben? Ich sehe Pferde – oder vielleicht
sind es Esel –, Wölfe, Hyänen, Füchse,
Kamele, Hasen… alle wie kopflos…«
Sable streckte die Hand aus. »Schau, dort!«
Eine größere Silhouette war vage zu erkennen. Erst
hielt Kolja es für einen Felsen, einen Erdhügel, weit
höher aufragend als ein Reiter. Doch es bewegte seine Masse
voran, die riesigen Schultern regten sich, und Schleier aus
rostbraunem Haar schimmerten durch die Staubpartikel in der Luft.
Als es den Kopf hob, sah Kolja den eingerollten Rüssel, die
gedrehten Stoßzähne und vernahm einen Ton wie einen
Trompetenstoß.
»Ein Mammut!«, hauchte er. »Den
Jägern des Khans ging mehr in die Falle als ihnen lieb ist!
Sie haben einen fremden Zeitabschnitt eingefangen! So etwas
mitzuerleben, davon hat wohl jede Epoche geträumt…
Wenn wir nur eine Kamera hätten!«
Aber Sable ließ das alles kalt.
Ein wenig steif bestieg Dschingis Khan sein Pferd. Wachen
begleiteten ihn auf beiden Seiten, als er hinabritt; es war sein
Vorrecht, das erste Stück Wild zu erlegen. Er hielt keine
zwanzig Meter unter Kolja an und wartete darauf, dass ihm das
Opfer zugetrieben wurde.
Plötzlich ertönten Schreie. Einige der Wachen des
Khans verließen die Formation und flohen, ohne auf das
Gebrüll ihrer Kommandeure zu achten. In den wolkigen
Schatten vor dem Khan sah Kolja einen roten Lumpen durch die Luft
fliegen – nein, keinen Lumpen, es war ein Mensch, ein Mongolenkrieger mit aufgerissenem Leib und hervorquellenden
Eingeweiden!
Der Großkhan wich keinen Fußbreit zurück,
hielt das Pferd ruhig und hob Lanze und Krummsäbel.
Kolja sah das Tier kommen, sah, wie es aus der Staubwolke
erschien. Es schlich sich an wie ein Löwe, doch es war viel
größer, muskulöser, sein Rücken breit wie
der eines Bären. Und als es das Maul aufriss, zeigte es
Zähne, die so gebogen waren wie das Krummschwert des Khans.
In einem Moment der Totenstille standen einander Herrscher und
Säbelzahntiger gegenüber.
Und dann krachte ein einziger Schuss, so unerwartet wie ein
Donnerschlag aus blauem Himmel. Die Kugel zischte an Koljas Kopf
vorbei und brachte seine Ohren zum Klingen. Rund um Kolja erhob
sich unter den Edlen und ihrer Dienerschaft
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