Die Zeitensegler
wieder fröhlich glucksend, und Simon erkannte, dass sie langsam an den Kern dessen kam, was sie ihm eigentlich zu sagen hatte. »Du brauchst nicht mehr darüber nachzudenken, denn das Ganze ist nicht möglich. Basrar ist für alle Zeiten für den Schattengreifer verloren. Ihr habt euren Freund gerettet. Wirklich gerettet.«
»Woher weißt du das?«
»Oh, man bekommt so einiges mit, wenn man erst einmal ein paar Tausend Jahre auf diesem Schiff verbracht hat.«
»Du meinst, es ist schon einmal jemandem gelungen zu fliehen?«
Die kleine Krähe nickte zufrieden: »Genau. Basrar ist nicht der Erste. Er ist der Zweite. Oh, das wird dem Herrscher nicht gefallen. Das wird ihm gar nicht gefallen!«
»Wer war der andere?«, fragte Simon aufgeregt. »Kennst du ihn? Hast du ihn gesehen?«
Die Krähe hüpfte vor Simon auf und ab. »Natürlich habe ich ihn gesehen. Ich war schließlich noch vor ihm hier. Ich habe alles beobachten können. Alles. Wie er kam und wie er ging. Alles hab ich gesehen. Jawohl!«
Auf einmal hatte das Hüpfen ein Ende und die Krähe tat nun sehr geheimnisvoll. Nach einem weiteren prüfenden Blick zu den Spitzen der Schiffsmasten trat sie noch näher an Simon heran und sprach, so leise es ihre krächzende Stimme erlaubte: »Es gibt nur eines, dem der Schattengreifer mit all seiner Magie nicht gewachsen ist. Eines nur, das mächtiger ist als er.«
Sie machte eine Pause, wohl um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen.
»Nun sag schon, was ist es?«, drängte Simon sie gespannt.
Die Krähe plusterte sich auf. Sie war offenkundig sehr stolz, Simons Aufmerksamkeit erregt zu haben. Aber dann rückte sie doch mit ihrem Wissen heraus: »Echte Gefühle«, krächzte sie. »Wahre Menschlichkeit. Dagegen kommt er nicht an, der Schattengreifer. All sein Zauber endet da, wo sich ein menschliches Herz öffnet.« Sie stutzte und kicherte. »Oh, das hab ich ja richtig poetisch ausgedrückt, oder? Nicht schlecht für eine Krähe, nicht wahr?«
»Wahre Gefühle …«, wiederholte Simon nachdenklich.
»Genau. Dagegen ist er machtlos. Und nur so habt ihr Basrar retten können. Mit eurer Freundschaft. Ihr habt Basrar aus den Klauen des Schattengreifers gerettet. Ihr habt euer Leben für seines riskiert. Und damit habt ihr den größten Zauber um ihn gelegt, den es gibt: Liebe. Dagegen hat der Schattengreifer keine Chance.«
Simon ließ die Worte der Krähe in sich wirken. Wahre Gefühle.
»Und bei dem anderen? Dem, der ebenfalls flüchten konnte? Wie war es bei ihm?«
»Eben genauso. Echte Gefühle hatten ihn von Bord gehen lassen. Und der Schattengreifer hatte es machtlos mit ansehen müssen. Oh, du hättest sein Gesicht sehen sollen, als …«
»Wer war es?«, unterbrach Simon hastig die Krähe. »Wer war der Erste, der flüchten konnte. Kennst du seinen Namen?«
»Natürlich kenne ich den. Du würdest staunen, was ich so alles weiß.«
»Verrätst du es mir?«
Die Krähe legte den Kopf zur Seite. »Wenn ich es einem Menschen verraten würde, dann dir.«
Simons Nerven waren zum Zerreißen gespannt. »Nun?«
»Es ist …«
Ein Schatten zog plötzlich über die beiden hinweg. Die Krähe schreckte auf und blickte zum Himmel. Eine der größeren Krähen – die mit dem langen, krummen Schnabel – war aus dem Mastkorb herausgeflogen und drehte wieder ihre üblichen Runden um den Seelensammler herum.
Die kleine Krähe sprang einige Schritte zurück. »Oh, ich muss los!« Sie zitterte auf einmal am ganzen Leib. »Man darfmich nicht in deiner Nähe sehen. Ich muss … Tut mir leid, Simon. Ein anderes Mal vielleicht …« Damit streckte sie die Flügel und stob davon.
Simon sah ihr nach, wie sie zu dem vorderen Mast flog. Eine Sekunde länger und ich hätte die Antwort erhalten!, dachte er verärgert.
Dennoch: Dieses Gespräch war sehr aufschlussreich gewesen und zudem schien dieser kleine Vogel noch sehr viel mehr Wissen in sich zu tragen. Vielleicht würde Simon von dieser Krähe endlich erfahren, wer der Schattengreifer wirklich war und worin Simons Rolle in dem großen Plan bestand …
Vor allem eine Frage brannte Simon besonders auf der Seele: Würde er es wieder nach Hause schaffen? Seine Freunde zu Hause und seine Eltern wiedersehen?
Vor seinem geistigen Auge sah er ihre ängstlichen, besorgten Gesichter. Wenn er ihnen doch nur eine Nachricht zukommen lassen könnte …
Jäh wurde er in seinen Gedanken unterbrochen.
Ein Stoß gegen das Schiff ließ den Seelensammler bis in die letzte Ecke knarren
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