Die Zelle: Rechter Terror in Deutschland (German Edition)
verschwindet.
«Sie haben mir versprochen, dass sie sagen würden, dass sie den Ausweis geklaut haben», sagt B. Damit beruhigen sie den jungen Steinmetz, und B. willigt ein. Uwe Mundlos stiehlt zusätzlich B.s Geburtsurkunde, und wenige Tage später sitzt er in einer Fotokabine, um Passbilder anzufertigen. Mit den Bildern, B.s Geburtsurkunde 279/1978 und dem Personalausweis geht Mundlos zum Einwohnermeldeamt Chemnitz. Am 29. Oktober 1998 stellt ihm das Passamt einen Reisepass auf den Namen Max-Florian B. aus. Größe: 1,82 Meter. Augenfarbe: braun.
B. gibt es jetzt zweimal: als Original und Fälschung. Diese Art, sich eine Tarnidentität zu beschaffen, ist nicht nur billiger als gefälschte Ausweispapiere, sondern auch bereits vor Jahren erfolgreich erprobt worden. Diese sogenannte Doublettenmethode hatte bereits die RAF angewandt. B. fand die Vorstellung furchtbar, dass jemand mit einem Reisepass auf seinen Namen herumlief.
«Aber ich war zunächst froh, dass sie dadurch weg waren. Ich war sie los.»
Den falschen Pass finden Polizisten 13 Jahre später in den Resten des ausgebrannten Caravans in Eisenach.
Während sich die drei im Untergrund einrichten, analysieren die Ermittler des LKA Thüringen weiter ihre Hinterlassenschaften aus der Garage an der Kläranlage in Jena. Die Experten der Abteilung Terrorismus/Extremismus entdecken die Spur Nr. II/17.5: Es ist ein Fotoapparat, in dem noch ein Film ist. Das LKA entwickelt die 24 Bilder und findet Fotos von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos.
Neben Familienfotos von Uwe Mundlos ist unter den Abzügen auch ein Bild, auf dem Tino Brandt zu sehen ist. Die drei kennen Brandt spätestens seit 1995, als sie begannen, sich in der «Anti-Antifa Ostthüringen» zu engagieren. Jetzt ist er als der Kopf des «Thüringer Heimatschutzes» (THS) einer der einflussreichsten Neonazis der Thüringer Szene – und ein Spitzel.
Wussten Hauptkommissar Georg Taßler und das Landeskriminalamt damals, dass Tino Brandt V-Mann des Verfassungsschutzes war? Wusste Taßler, dass Tino Brandt versuchte, Geld vom Verfassungsschutz für das Trio zu organisieren, während das LKA nach dem Trio fahndete?
Siegfried Mundlos versteht das Verhalten der Behörden nicht. Im Mai 1998 strengt er eine Dienstaufsichtsbeschwerde an, weil das LKA Uwe Böhnhardt während der Garagendurchsuchungen nicht gleich mitgenommen hat. «Wenn sie die drei damals gefasst hätten, wäre es vielleicht alles nicht passiert», sagt Siegfried Mundlos. Über den Ausgang seiner Beschwerde hört er nie etwas.
Dafür erhält er kurz darauf Besuch von Polizisten, wie er später Journalisten erzählt. Die Beamten bitten ihn, mit seinen eigenen Ermittlungen aufzuhören: Er gefährde die Arbeit der Behörden. Aber Siegfried Mundlos gibt nicht auf. Er fragt immer wieder im Bekanntenkreis seines Sohnes herum, ob es Neuigkeiten vom untergetauchten Trio gibt. «Hätte ich damals gewusst, dass sie noch so nah sind, hätte ich mich doch in mein Auto gesetzt und wäre nach Chemnitz gefahren, um sie zu finden.»
Auch ein Besuch im Frühjahr, nicht lange nach der Flucht seines Sohnes, gibt ihm zu denken. «Die Herren vom Verfassungsschutz waren bei mir. Sie kamen ohne Anmeldung und haben ihre Ausweise gezeigt. Leider kann ich mich nicht mehr an die Namen erinnern», sagt Mundlos heute. Laut Mundlos sagten sie: «Wenn Sie Hinweise auf Ihren Sohn haben, rufen Sie uns an – aber nicht von Ihrem Festnetztelefon zu Hause aus, sondern von einer Telefonzelle. Sie werden nämlich von der Polizei abgehört.»
Der damalige Chef des Thüringer Verfassungsschutzes, Helmut Roewer, bestätigt, dass der Geheimdienst damals Sorge hatte, die Polizei könnte dem Trio helfen.
Dieser merkwürdige Besuch wirft ein kurzes Schlaglicht darauf, wie das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) in den neunziger Jahren arbeitet. Unter der Führung von Helmut Roewer hat sich das Amt seit 1995 in eine eher ungewöhnliche Richtung entwickelt. Roewer will das Amt «selbst führen». Unter den Mitarbeitern des Amtes keimt in dieser Zeit der Verdacht von «Günstlingswirtschaft» auf. Roewer hat insgesamt neun junge Universitätsabsolventen ohne fachliche Kenntnis angestellt und in Schlüsselpositionen befördert.
Die Universitätsabsolventen werden vom Chef zu ellenlangen Essensterminen eingeladen, und abends trifft man sich gern auf ein Glas noch in Roewers Büro. Für diese Anlässe hat Helmut Roewer stets ein Rotweinfass in seinem Büro parat stehen.
Weitere Kostenlose Bücher