Die Zelle: Rechter Terror in Deutschland (German Edition)
Bahnhof ab. «Mit dem Bus ging’s weiter Richtung Küste», erinnert sich G. Sie haben ihn eingeladen, weil Uwe Böhnhardt Informationen aus dem echten Leben seiner Tarnidentität braucht. Böhnhardt nennt sich zu diesem Zeitpunkt nur noch Gerri.
Vor seiner Abreise aus Hannover muss G. den Akku aus seinem Handy nehmen, er darf sein Telefon den gesamten Urlaub über nicht benutzen – damit er nicht geortet werden kann. Die drei übernehmen alle Kosten, sie wohnen in einem Ferienbungalow auf einem Campingplatz am Strand, spendieren ihm einen Rundflug mit einem kleinen Flugzeug. Holger G. ist nicht sehr selbstbewusst, ihm liegt viel an der Anerkennung durch Kameraden. Die Einladung empfindet er als Ehre.
Auch Uwe Mundlos meldet sich regelmäßig bei seinem Double Max-Florian B. Meistens ruft er an, manchmal fahren Böhnhardt und er aber auch nach Dresden, wo B. mittlerweile lebt. Bei den Treffen und Anrufen versucht Uwe Mundlos, die Neuigkeiten im Leben seiner Tarnidentität zu erfahren. Wie heißt B.s aktuelle Freundin? Hat er ein Auto? Wann wurde sein erstes Kind geboren, und wie heißt es? Diese Informationen braucht er, um seine Legende glaubhaft aufrechtzuerhalten. Mundlos notiert diese Fakten später auf der Rückseite einer Kopie von B.s Geburtsurkunde. Uwe Mundlos nennt sich nur noch Max.
Beate Zschäpe lebt mit dem Hauptnamen Susann D., nennt sich Liese, benutzt aber mindestens noch zehn weitere Aliaspersönlichkeiten. Die Dokumente stammen von Bekannten, manchmal benutzt sie aber auch Ausweise, die Diskobesucherinnen oder Rentnerinnen gestohlen wurden. Sie verfolgt eine Streupersönlichkeits-Strategie, um im Untergrund unerkannt zu bleiben: Für verschiedene Anlässe verwendet sie verschiedene Ausweispapiere. Zum Arzt geht sie mit einer AOK-Gesundheitskarte, die sie als Silvia R. ausweist, bei ihrem Optiker ist sie Lisa P., Ferienwohnungen mietet sie als Susann E.
In den folgenden Jahren laden die drei Holger G. immer mal wieder dazu ein, mit ihnen die Ferien zu verbringen. 2002 geht es auf einen Zeltplatz bei Flensburg, wo sie in einem Wohnwagen wohnen und Doppelkopf spielen. Zwei Jahre später ist ein Campingplatz bei Lübeck das Urlaubsdomizil. Zu viert besuchen sie die Hansestadt, gehen durch das berühmte Holstentor und beenden die Ferien mit einem Skatturnier. G. ist sich bewusst, dass die drei etwas von ihm wollen. Sie nennen die regelmäßigen Treffen «Systemchecks»: «Bei diesen Treffen wurde abgeklärt, ob es zu Veränderungen von meinen persönlichen Lebensverhältnissen gekommen ist. Dazu zählte auch, ob es zu Strafverfahren gekommen ist, also ob meine Identität für die drei weiterhin gefahrlos nutzbar war», sagt er.
Holger G. ist sehr wichtig für das Trio, nicht nur für sein Double Uwe Böhnhardt. In den Jahren 2001 bis 2011 hilft er der Zelle, neue Ausweispapiere, eine AOK-Krankenkassenkarte, einen Führerschein und eine ADAC-Card zu organisieren. Bei einem Treffen mit Beate Zschäpe am Zwickauer Bahnhof übergibt diese ihm außerdem einmal einen Umschlag mit 10000 Mark. «Dieser Betrag war dazu gedacht, dass die drei darauf zurückgreifen können, wenn mal was sein sollte. Quasi ein Depot», erinnert sich Holger G.
Habil Kılıç freut sich auf die Geburt seiner zweiten Tochter. Seine Frau ist gerade mit dem ersten Kind in der Türkei, um dort in Ruhe ein paar Wochen ihrer Schwangerschaft zu verbringen.
Eigentlich arbeitet der 38-jährige Kılıç auf dem Gemüsegroßmarkt in München. Aber in diesen Tagen kümmert er sich um das Familiengeschäft «Frischemarkt Kılıç» in Rahmersdorf im Münchener Osten. Der Laden liegt an der Bad-Schachener-Straße, einer vielbefahrenen, mehrspurigen Ausfallstraße. Eine blau-weiß gestreifte Markise und kleine Flaggen machen schon von weitem auf die feilgebotenen Tomaten, Salate, Bananen, Äpfel und Mandarinen aufmerksam. Die beiden Glasscheiben des Ladens sind von außen mit den Obst- und Gemüsekisten zugestellt. Die Tür zum Geschäft steht immer offen.
Habil Kılıç ist am 29.August 2001 allein im Laden, als gegen 10:40 Uhr zwei Männer durch die offene Tür hereinkommen. Er steht hinter der Verkaufstheke.
Einer der beiden Männer geht um die Theke herum und feuert ohne Vorwarnung zwei Schüsse ab. Beim ersten zielt er mitten in Kılıç’ Gesicht. Die Kugel tritt in der Nähe der Wange ein und kommt an seinem rechten Ohr wieder heraus. Der Getroffene taumelt zu Boden. Die zweite Kugel trifft den Gemüsehändler in den
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