Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
mich bemerkt. Ist das möglich?«
Der Seher lächelte verschmitzt. »Ausschließen lässt sich das nicht. Selvya könnte über ein Inneres Auge verfügen. Das braucht kein Licht, um tief in deine Seele zu blicken. Da sich die Geistesgaben anderer in dir spiegeln, könnte sie dabei sich selbst erblickt haben.«
»Ich glaube eher, sie hat uns gerochen«, brummte Gabbar. »Unsere Kleider stinken nach Kuhmist.«
»Wie auch immer. Sollte sie uns entdeckt haben, könnte sie uns in ernste Schwierigkeiten bringen.«
»Die werdet Ihr ohnehin bald bekommen«, sagte Oban und öffnete eine breite Tür zur Linken. Dahinter lag ein großer, lichtdurchfluteter Raum. Er deutete in den Saal. »Bis es so weit ist, seid Ihr in der Halle des Kronrates sicher.«
Obwohl Taramis den Hauptmann für einen ehrenhaften Soldaten hielt, wollte er kein Risiko eingehen. Kurzerhand imitierte er dessen einladende Geste. »Nach Euch. Nur damit Euch nicht versehentlich die Tür aus der Hand rutscht, wenn wir alle drin sind.«
Gabbar folgte dem Gardisten mit seiner Axt. Danach trieb Masor den Dagonisier in den Saal. Seit dem Erstickungsanfall verhielt sich Natsar erstaunlich ruhig. Taramis folgte als Letzter.
Oban hatte die Ratshalle zuvor bereits als großen Würfel beschrieben. Schmale, hohe, bunt bemalte Glasfenster tauchten den Raum von zwei gegenüberliegenden Seiten aus in ein zauberhaftes Licht. Boden und Wände waren mit edlen Hölzern verkleidet. In der Mitte stand eine ringförmige Tafel, an der bis zu sechsunddreißig Ratsherren Platz fanden.
Taramis konnte in den Gesichtern seiner Gefährten lesen wie in einem Buch. Sie waren Jäger und Krieger. Sich zwischen vier Wänden einsperren zu lassen, behagte ihnen gar nicht. Über Zurs demonstrative Gelassenheit musste er hingegen schmunzeln. Der Lauscher ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen, ein hochlehniges, gepolstertes Möbel aus schwarzbraunem Holz, und legte die Füße auf den Tisch. Marnas und Pyron machten sich an die Erkundung des Raums.
Der komanaische Hauptmann deutete zur fensterlosen Wand auf der rechten Seite. »Dort befindet sich der Thronsaal. Seid Ihr bereit, der Regentin gegenüberzutreten, Tempelwächter?«
»Einen Moment noch.« Taramis ging zu Veridas und flüsterte: »Würdest du mir noch einmal deinen Sternensplitter leihen?«
Der Seher streifte sich das Halsband über den Kopf, legte den schwarzen Stein in Taramis’ Hand und fragte ebenso leise: »Du traust dem Hauptmann nicht?«
»Es sind eher die Berichte von Lebesi, die mich zur Vorsicht gemahnen. Setz dich zu Kater Zur. Er wird es dich wissen lassen, wenn ich Hilfe brauche.«
Taramis ging selbst zum Lauscher hinüber und bat ihn, während er Ez aus dem Futteral befreite, seine mentalen Ohren weit aufzusperren.
»Hätte ich sowieso gemacht«, antwortete Zur.
Zuletzt wechselte Taramis einige Worte mit seinem Lehrer.
»Sei auf der Hut, mein Sohn«, ermahnte ihn Marnas. »Es hat sicher seinen Grund, dass die Leute Lebesi eine Hexe nennen.«
Die schmale Tür bestand aus massivem Eisen. Sie war in eine verputzte, bemalte Wand eingelassen, die riesige zartgrüne Papyrusstauden zeigte. Das Klopfen des Hauptmannes schien niemanden zu stören.
Plötzlich hörte Taramis eine Stimme. Sie klang seltsam hohl, da der Leibwächter auf der anderen Seite der Mauer durch ein dickes Kupferrohr sprach.
»Hauptmann! Ihr seid schon wieder zurück?«, hallte es durch die Röhre, in die der Gefragte unverwandt hineinstarrte.
»Ja. Ich bringe einen Besucher, der auf geheimer Mission nach Peor gekommen ist. Er muss die Regentin dringend sprechen.« Obans Antwort war nur ein Raunen, weil er nicht wissen konnte, wer sich alles am anderen Ende des Sprechrohrs befand.
»Sie hält gerade Audienz. Der Botschafter von …«
»Der ist nicht wichtig. Sagt Ihrer Königlichen Hoheit, sie soll ihn wegschicken. Der Mann an meiner Seite hat eine ebenso dringende wie vertrauliche Nachricht für sie.«
»Ihr kennt die Regeln, Hauptmann.«
»Wenn Ihr Euren Kopf morgen früh noch auf den Schultern tragen wollt, dann macht endlich die Tür auf«, zischte Oban. Bei jedem Wort spritzte Speichel in die Röhre.
Einen Moment herrschte Stille. Der Mann auf der anderen Seite des Kupferrohrs schien nachzudenken. Schließlich antwortete er: »Was würdet Ihr an meiner Stelle tun, Hauptmann?«
Oban stöhnte. »Vermutlich das Gleiche wie Ihr. Wenn ich allerdings erführe, dass die zwei Antische, die Ihrer Königlichen Hoheit heute früh
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