Die Zeugin: Thriller (German Edition)
aus seinem anderen Leben auftauchte, musste sie schleunigst abhauen. Ihre Verwirrung war echt, Verstellung war nicht nötig. Mit einer klatschenden Ohrfeige löste sie sich aus seiner Umarmung.
Dann stürmte sie zur Tür und warf ihm zum Abschied einen bösen Blick zu. Er saß nach vorn gebeugt da, die Hände locker um seine Bierflasche, und redete mit einem Mann, der wie ein wandelnder Dolch aussah.
Hinter ihm standen zwei andere, die nur darauf zu warten schienen, schwächere Leute in die Flucht zu schlagen.
Rory marschierte hinaus in die kalte, von Scheinwerfern und Neonreklamen erfüllte Nacht. Ihre Hände waren schweiß nass. Ihr war übel und schwindelig. Erst nach drei Blocks hielt sie ein Taxi an.
Sie knallte die Tür zu, und der Wagen schob sich in den Verkehr auf dem Sunset Boulevard. Sie fühlte sich wie elektrisch aufgeladen.
Die Stimme in ihrem Kopf klang nach Seth. Was für ein Wahnsinn.
Plötzlich musste sie lächeln und konnte nicht mehr damit aufhören. Zum ersten Mal verstand sie Seths besonderes Grinsen. So war es, wenn das Blut brodelte und die Muskeln vor Erregung zuckten. Ja, das ist es.
Eine halbe Stunde später holte er sie am Beverly Center ab. Sie verloren kein Wort über die Begegnung, er sagte nur: »Gut gemacht.« Dann fuhren sie in ihr billiges Studentenapartment im westlichen Teil von L. A. und liebten sich mit ungewohn ter Wildheit. Als sie im Dunkeln, an der Wand stehend, anein ander zerrten und sie ihm in die Schulter biss, dachte sie: Das ist gefährlich. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag, und zugleich kam es ihr vor wie das Normalste von der Welt. Was er macht, ist gefährlich. Seine Arbeit könnte ihn das Leben kosten.
Die Leute, mit denen er zu tun hatte, waren Verbrecher. Echte, eingefleischte Kriminelle, keine Kids auf einer Spritztour. Keine unverbesserlichen Verwandten, die mit zu viel Dope oder einer gestohlenen Stereoanlage erwischt wurden – so wie ihr lieber, leichtsinniger Onkel, dessen Urteilsvermögen nicht mit seinem Charme und seiner Lebensfreude Schritt halten konnte. Die Verbrecher, mit denen Seth verkehrte, verkauften Waffen an andere Verbrecher und an kriminelle Organisationen in den USA und Lateinamerika. Sie verkauften sie in großen Mengen und reagierten ausgesprochen ungehalten, wenn jemand ein doppeltes Spiel mit ihnen trieb. Sie waren jederzeit bereit, einen Spitzel zu töten. Was sie mit einem verdeckten Ermittler anstellen würden, wollte sie sich lieber gar nicht erst ausmalen.
Nach und nach war es Seth gelungen, das Vertrauen dieser Männer zu gewinnen. Er hatte vor, die Drahtzieher an der Spitze der Versorgungskette zu Fall zu bringen.
Er umklammerte ihre Beine und drückte sie mit geschlossenen Augen an sich. »O Gott, Rory …«
Es ist gefährlich.
Sie liebte den Klang ihres Namens auf seiner Zunge und umschlang ihn mit aller Kraft.
Erst später stahl sich eine neue Furcht in ihre Gedanken.
Er ist gefährlich.
V on diesem Erlebnis in Hollywood blieb etwas Rauschhaftes zurück: eine Euphorie wie bei der Fahrt mit einem Hochgeschwindigkeitszug.
Doch irgendwann nach einer falsch gestellten Weiche entgleiste das Ganze allmählich. Seth kam nicht nach Hause. Rief nicht zurück, selbst wenn er freihatte, weil er zu erschöpft und gestresst war. Die Arbeit verschlang ihn.
Um ein Netzwerk zu unterwandern, das Schusswaffen an Kriminelle in Südkalifornien verkaufte und ganze Last wagenladungen davon an noch tödlichere Verbrecher in Mexiko lieferte, wurde Seth ein völlig anderer Mensch. Ein rastloser, beängstigender Mensch. Verdeckt zu ermitteln war, so behauptete er, als würde man eine Figur in einem Videospiel erschaffen. Dieses Leben isolierte ihn und bedrohte seine Psyche. Was ihn antrieb, war das Bewusstsein, einen gerechten Krieg zu führen. Und natürlich der Nervenkitzel. Doch je länger er dieses Spiel spielte, desto tiefer zog es ihn hinein. Und der Ausgang rückte immer weiter in die Ferne.
Für die meisten anderen Polizisten existierte er nicht einmal.
Bevor er zur Probe als verdeckter Ermittler zugelassen worden war, musste er einen psychologischen Test ablegen, um festzustellen, ob er eine Lüge leben konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Er schnitt hervorragend ab.
Es funktionierte, erklärte er ihr einmal, weil er sich an die Regeln hielt. Er begab sich nie in eine Situation, ohne genau zu wissen, worauf er aus war: Beweise für das von ihm untersuchte Verbrechen. Es kam nicht infrage, Unschuldige zu Straftaten
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