Die Zeugin
Sue noch etwas einwenden oder weitere Fragen stellen konnte. Falls Matt überlebt hatte und falls er und Gibb schon nach ihr fahndeten, dann würden sie zuallererst in Tennessee nach ihr suchen. GroÃmutter war in genausogroÃer Gefahr wie sie. Und wie ihr Kind.
Schlagartig erkannte Kendall, was für weitreichende Konsequenzen sich aus ihrer augenblicklichen Zwangslage ergaben. Im besten Falle würden alle Mitglieder der Bruderschaft gefaÃt und für ihre Verbrechen vor Gericht gestellt. Sie würde als Hauptzeugin mindestens eines Mordes auftreten. Monatelang, vielleicht jahrelang müÃte sie unter Regierungsschutz stehen, während sich die Staatsanwälte durch das Beweismaterial wühlten und den Prozeà vorbereiteten. Allein die Ermittlungen konnten Jahre dauern. Danach gäbe es Vertagungen, Verzögerungen, Berufungsverhandlungen, das unermüdliche Mahlen der Rechtsprechungsmaschinerie, das sich bis in alle Ewigkeit hinziehen konnte. Und sie und ihr Kind steckten mittendrin.
Bis der Fall abgeschlossen war, gehörte ihr Leben quasi dem Staat. Jede ihrer Bewegungen würde überwacht. Für jeden Schritt, den sie unternahm, würde sie eine Genehmigung brauchen. Ihr Leben würde demjenigen einer Marionette gleichen.
Sie schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte. War das ihre Strafe? Sollte sie so für das büÃen, was sie getan hatte, um den Job in Prosper zu bekommen?
Wenn die FBI-Beamten die dunklen Winkel im Leben ihrer Hauptzeugin auszuleuchten begannen, würden sie eine gewaltige Ãberraschung erleben. Bestimmt würden sie alles über Kendall Deaton herausfinden. Und wie glaubwürdig wäre sie wohl, wenn ihr Geheimnis aufflog?
Sie hatte sich ohne fremdes Zutun in einer selbst gelegten
Schlinge verfangen. Am liebsten hätte sie losgeheult, doch sie fürchtete, nicht mehr aufhören zu können, wenn sie erst mal damit anfing. Wenn Agent Braddock sie bei seiner Ankunft in Tränen aufgelöst fand, würde er annehmen, daà sie sich mit ihrem Ehemann gezankt und die ganze Geschichte nur erfunden hatte, um ihn zu blamieren.
Um sich zu beruhigen und ihre schmerzenden, verkrampften Muskeln zu entspannen, nahm sie eine heiÃe Dusche, allerdings bei offenem Duschvorhang, so daà sie die Tür am anderen Ende des Zimmers im Blick hatte. Mit nichts als den Kleidern auf ihrem Leib hatte sie die Flucht angetreten. Ihr Kostüm war fleckig und zerfetzt, aber sie zog es wieder an und legte sich aufs Bett.
So erschöpft sie auch war, sie fand einfach keinen Schlaf, döste und wachte bei jedem noch so leisen Geräusch auf. Alle paar Minuten blickte sie auf die Uhr.
Es wurde eine lange Nacht.
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»Möchten Sie ein Brötchen dazu? Wir haben heute morgen frische Honigbrötchen.«
»Nein danke, nur den Kaffee.«
Es war erst zwanzig nach acht. Kendall trottete seit sechs Uhr auf dem orangefarbenen Teppichboden in ihrem Motelzimmer auf und ab und zählte die dahinkriechenden Minuten. SchlieÃlich konnte ihre überstrapazierte Geduld es keine Sekunde länger im Zimmer aushalten, und sie brauchte unbedingt eine Tasse Kaffee. Also hatte sie Braddocks Befehl miÃachtet, sich nicht nach drauÃen zu wagen, und war über die StraÃe in das kleine Cafe marschiert. Alle paar Schritte hatte sie sich umgesehen, ob sie nicht verfolgt wurde.
Kendall zahlte bei der freundlichen Kassiererin und trat mit ihrem Kaffee auf die StraÃe. An der Hausecke stand eine Telefonzelle.
Noch einen schnellen Anruf in Sheridan, nur um sich zu überzeugen, daà alle wohlauf waren? Natürlich konnte sie auch das Telefon in ihrem Motelzimmer benutzen, aber je weniger Gespräche auf ihrer Rechnung standen, desto besser.
Es war eine altmodische Zelle mit Falttür. Sie zog sie hinter sich zu, warf ein paar Münzen ein und wählte. Nachdem das Telefon zweimal geklingelt hatte, legte sie auf und wählte erneut.
Ricki Sue nahm beim ersten Läuten ab. »Was ist los? Haben sie dich erwischt? Bist du in Schwierigkeiten?«
»Das bin ich«, antwortete Kendall. »Aber aus anderen Gründen, als du glaubst. Wie geht es GroÃmutter?«
»Gut. Sie macht sich natürlich Sorgen. Wir würden beide ganz gern wissen, was, verflixt noch mal, eigentlich los ist.«
»Hat irgend jemand angerufen und nach mir gefragt?«
»Nein. Wo bist du, Kendall?«
»Ich kann nicht lange sprechen.
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