Die Zeugin
geworden und hatte nie in einer richtigen Familie gelebt. Bis er alt genug war, um auf sich selbst aufzupassen, war er zwischen zwei vielbeschäftigten Individuen hin und her geschoben worden, für die er ein lästiges Anhängsel und das lebende Mahnmal ihrer miÃglückten Ehe war.
Seine Eltern hatten sich eifrig und auch erfolgreich ihren jeweiligen Karrieren gewidmet. Sein Vater hatte eine Professur in der geisteswissenschaftlichen Fakultät einer äuÃerst angesehenen Universität übernommen. Die Mutter war stellvertretende Direktorin eines groÃen Architekturbüros.
Doch als Eltern hatten beide hoffnungslos versagt. Abgesehen von den obligatorischen Anrufen an hohen Feiertagen, hatte er kaum mehr Kontakt mit ihnen. Ganz bestimmt beeinfluÃten sie sein Leben in keinster Weise und hätten das auch gar nicht gewollt. Ihre seltenen Gespräche verliefen höflich, aber distanziert. Von Geburt an war er sich wie ein Eindringling vorgekommen. Und an dieser Selbsteinschätzung hatte sich in den vergangenen dreiundvierzig Jahren nichts geändert.
Darum hegte er auch eine gewisse Verachtung für Heim und Herd. Aufgrund seiner zerrissenen Familie hatte er es nie gelernt, Beziehungen länger aufrechtzuerhalten, und nie den Wunsch entwickelt, Vater zu werden. Ganz im Gegenteil.
Er lehnte Kinder nicht prinzipiell ab. Tatäschlich hatte er Mitleid mit ihnen. Allzuoft war hilfloser Nachwuchs kranken Eltern ausgeliefert. Wenn jemand von vornherein wuÃte, daà er mit Sicherheit ein lausiger Vater werden würde, warum sollte er dann ein Baby zeugen?
Während seiner Psychologie-Ausbildung hatte er gelernt, wie sehr Eltern die emotionale Entwicklung eines Kindes behindern konnten. Ein ganz normales Baby konnten sie durchaus in einen nicht anpassungsfähigen Erwachsenen und schlimmstenfalls in einen Massenmörder verwandeln. Und die Eltern brauchten
nicht einmal böswillig zu sein oder ihr Kind zu miÃhandeln, um grauenvolle Fehler zu begehen â dazu reichte schon Selbstsucht aus.
Deshalb hatte er sich geweigert, ein Baby mit Lisa zu zeugen â denn so egoistisch war er nicht. Er bezweifelte aufrichtig, daà er und Lisa zusammen alt werden wollten. Es war unverantwortlich, ein Kind zu zeugen, wenn sich einigermaÃen deutlich vorhersehen lieÃ, daà man es unglücklich machen würde.
Hinzu kam das Fiasko, dessentwegen er das FBI verlassen hatte. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, rührte Lisa an genau diese Wunde. »Hat das irgendwas mit dem zu tun, was da unten in New Mexico passiert ist?«
»Nein.«
»Ich glaube schon.«
»Nein.«
»Wenn du nur darüber reden würdest, John, dann würdest du dich besser fühlen.«
»Ich will nicht darüber reden, und ich will kein Baby. Basta. Ende der Diskussion.«
»Du selbstsüchtiger Hurensohn!«
Sie schmollte tagelang, ehe sie sich dazu herablieÃ, wieder mit ihm zu sprechen. Er traute ihr zu, daà sie sich ohne seine Zustimmung von ihm schwängern lieÃ, deshalb lieà er sich einen Termin für eine Sterilisation geben und benutzte bis dahin Kondome.
Ehe die Operation stattfinden konnte, hatte Lisa die Kondome satt und verschwand für immer aus seinem Leben. Kurz danach war er nach Denver gerufen worden, um eine Zeugin nach South Carolina zu überführen.
Und jetzt stand er hier und gab einem Baby zu trinken, indem er es an seinem Zeigefinger nuckeln lieÃ. Vor drei Wochen hätte er sich nicht mal in die Nähe eines Säuglings gewagt, selbst wenn
es um sein Leben gegangen wäre. Und erst recht hätte er keines berührt oder gar mit einem geredet. Was er jetzt gerade tat, befand sich jenseits seiner bisherigen Weltanschauung.
»So kann das Leben spielen, was, Kevin?«
Das Baby wirkte jetzt zufrieden und still. John warf einen Blick auf die Uhr. ScheiÃe. Schon dreiundzwanzig Minuten, seit Kendall losgefahren war. Sie durfte auf gar keinen Fall vor ihm zurückkommen. Solange sie glaubte, daà er immer noch unter der Amnesie litt, war er im Vorteil. Wenn sie herausfand, daà er das Haus verlassen hatte, um ein...
Telefon!
Vor lauter Eile, dem Baby möglichst schnell etwas zu trinken zu geben, hatte er total vergessen, weshalb er eigentlich hier war. Er drehte das Wasser ab und stelzte ins Wohnzimmer zurück. Da stand es, direkt neben dem Sofa, ein altmodischer Wählscheibenapparat.
John lachte,
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