Die Zuflucht der Drachen - Roman
sich auf. Der Lichtkegel der Taschenlampe fiel auf ein von Staub überzogenes Gesicht, über und über bedeckt mit runzligen Lappen entzündeter Haut. Zwei Widderhörner ringelten sich seitlich aus dem kahlen Schädel, und ein milchiger Film trübte die kalten, schwarzen Augen. »Du … bist gekommen«, röchelte der Dämon mit unfassbar tiefer Stimme.
»Du hast mich tatsächlich gerufen«, keuchte Seth. »Wie ich es mir gedacht habe.«
»Und du … hast mich gehört.« Ein Hustenkrampf packte den todgeweihten Dämon, und Staubwolken stoben durch die Luft. Als sich der Anfall gelegt hatte, spie Graulas einen feucht glänzenden Klumpen grünlichen Schleims in die Ecke. »Komm näher.«
Seth ging auf den gewaltigen Dämon zu. Obwohl Graulas auf dem Boden saß, reichte ihm Seth gerade einmal bis zu den gebeugten Schultern. Der ekelhafte Geruch wurde intensiver, als er näher kam, und verwandelte sich in eine widerliche Mischung aus Fäulnis und Eiter. Seth kämpfte gegen den Drang, sich zu übergeben.
Graulas schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken; seine enorme Brust arbeitete wie ein riesiger Blasebalg. Bei jedem mühsamen Atemzug hörte Seth ein nasses Rasseln.
»Alles in Ordnung?«, fragte Seth.
Der Dämon bewegte seinen grotesken Kopf vor und zurück, und die truthahnartigen Hautlappen wippten dazu im Takt. Dann begann er langsam zu sprechen. »Ich bin wacher als bei unserer letzten Unterredung. Aber ich liege trotzdem im Sterben. Wie ich bei unserer ersten Begegnung bereits erwähnt habe, vollzieht sich das Sterben bei meinesgleichen äußerst langsam. Monate sind wie Minuten. In gewisser Weise beneide ich Kurisock.«
»Er ist also wirklich tot?«
»Er hat die Sphäre dieser Existenz hinter sich gelassen. Sein neuer Aufenthaltsort ist weniger angenehm. Zweifellos wird er da sein, um mich zu begrüßen.« Eine kleine Spinne ließ sich von der Spitze eines der Widderhörner herab, schwebte an einem silbrigen Faden.
»Warum wolltest du mich sprechen?«, fragte Seth.
Der Dämon räusperte sich. »Es war töricht von dir zu kommen. Wenn du verstehen würdest, wer ich bin, wärest du weggeblieben. Vielleicht aber war es das auch nicht, denn abermals habe ich vor, dir zu helfen. Erzähle mir, wie sich deine Fähigkeiten entwickeln.«
»Nun, ich konnte dich hören, als ich mit den Satyren im Wald war. Im Kerker konnte ich die Gespenster flüstern hören. Und neulich habe ich einen Goblin gesehen, obwohl er unsichtbar war.«
Der Dämon hob einen dicken, knorrigen Finger und klopfte damit auf eine missgestaltete Öffnung an der Seite seines Kopfes. »Ob es mir gefällt oder nicht, meine Wahrnehmungen reichen weit über diese armselige Wohnstatt hinaus. Ich kann von hier aus den größten Teil des Reservates beobachten, alles bis auf einige geschützte Orte. Einer dieser Orte war das Reich Kurisocks. Bis er starb. Dann fielen die Vorhänge, und ich konnte sehen. Der Nagel in dem Wiedergänger hat ein Mal auf dir hinterlassen, als du ihn herausgezogen hast. Und als der Nagel dann zerstört wurde, warst du wieder in der Nähe, und etwas von seiner Macht ist auf dich übergegangen und hat dich tief gezeichnet.«
»Mich gezeichnet?«
»Der Nagel hat dir Macht verliehen. Dich für Größeres vorbereitet. Ich verstehe dein Begehr. Deine Familie hat über den Gegenstand gesprochen, den sie von den Zentauren haben wollen, während sie über ungeschützte Straßen fuhren. Dein Großvater sollte es eigentlich besser wissen. Ich konnte jedes Wort hören.«
»Sie brauchen das Horn, das die Zentauren haben«, bestätigte Seth. »Ich hatte gehofft, du würdest vielleicht wissen, wie wir es uns beschaffen können.«
Graulas begann zu husten. Eine heftige Kaskade von erstickten Keuch- und Würgelauten warf ihn zur Seite, und er musste sich auf den Ellbogen stützen.
Seth trat zurück und fragte sich schon, ob er gleich miterleben würde, wie der uralte Dämon an seinem eigenen Schleim erstickte, doch endlich zwang Graulas sich wieder zurück in eine sitzende Position. Er atmete schwer, und weißliche Flüssigkeit sickerte aus seinem Mundwinkel.
»Das erste Horn eines Einhorns ist ein mächtiger Gegenstand«, schnarrte Graulas. »Es reinigt, was immer es berührt. Kuriert jede Krankheit. Macht jedes Gift unschädlich. Beseitigt jedes Leiden.«
»Willst du, dass ich es benutze, um dich zu heilen?«
Der Dämon hustete abermals. Es könnte auch ein Kichern gewesen sein. »Die Krankheit hat sich tief in mein Wesen
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