Die Zuflucht der Drachen - Roman
lange Holzstange und bedeutete Seth, zu ihm herüberzukommen. Seth sprang auf das flache Floß, der Troll stemmte die Holzstange ins Wasser und stieß das Floß vom Ufer ab. Kleine Wellen breiteten sich auf dem dunklen, dampfenden Wasser aus.
»Mach das Licht aus«, murmelte Nero. »Von hier an müssen wir es um jeden Preis vermeiden, Aufmerksamkeit zu erregen.«
Seth schaltete die Taschenlampe aus. Er konnte nichts sehen. Er lauschte auf das sanfte Geräusch des Wassers, das gegen das Floß plätscherte. »Du kannst in der Dunkelheit sehen?«, flüsterte er.
»Ja.«
»Kannst du mich sehen?«
»Gewiss.«
»Sollte ich nicht unsichtbar sein?«
»Das Schattenwandeln funktioniert nur, solange du unentdeckt bist. Sobald jemand dich einmal gesehen hat, kann die Düsternis dich nicht mehr verbergen.«
Seth dachte darüber nach. »Was wäre, wenn ich mich später an dich anschleichen würde?«
»Dann könntest du meinen Augen verborgen bleiben.«
Seth setzte sich im Schneidersitz hin. Hier über dem Sumpf wirkte die Luft weniger kalt. Ein schwerer, abgestandener Geruch drang ihm in die Nase. »Warum hilfst du mir?«
»Du bist ein Verbündeter der Nacht«, antwortete Nero. »Graulas ist ein hochrangiger Dämonenfürst. Vor langer Zeit war er die linke Hand von Gorgrog, dem Dämonenkönig. Ich stehe tief in seiner Schuld. Er hat mir meinen Sehstein gegeben.«
»Wartest du auf mich, während ich das Horn klaue?«
»Ob du heute oder morgen Nacht zurückkehrst, ich werde mit dem Floß in der Nähe der Uferstelle warten, wo ich dich absetze. Doch still. Da nähert sich etwas.«
Seth lauschte angespannt, konnte jedoch nichts hören; Nero hockte sich neben ihn und flüsterte ihm ins Ohr. »Leg dich flach hin.«
Seth warf sich auf den Bauch. Er konnte spüren, wie der Troll sich neben ihn legte. Einen Moment später hörte er etwas in der Ferne durchs Wasser schwappen. Es kam auf sie zu. Seth wünschte, er hätte Augen wie seine Schwester und könnte in der Dunkelheit sehen. Was konnte das sein? Nach dem Geräusch zu urteilen etwas Großes. Seth hielt den Atem an.
Das Schwappen kam näher. Der klatschende Rhythmus ließ auf eine riesige Kreatur schließen, die durch das Wasser watete. Ein Bein patschte vor, dann das andere, wieder das erste, wieder das andere …
Nero rückte ein Stück von Seth weg. Der Sumpf war vollkommen schwarz. Während das Schwappen sich ihnen weiter näherte, brachten sanfte Wellen das Floß ins Schwanken. Und dann begann das Floß vorwärtszugleiten, weg von der herannahenden Bedrohung.
Seth hörte lautes Atmen hinter ihnen. Außerstande etwas zu sehen, schloss er die Augen und konzentrierte sich darauf, sein eigenes Atemgeräusch zu dämpfen. Die Kreatur glitt direkt hinter ihnen vorbei, ohne innezuhalten, und schon bald entfernte sich das Geräusch. Erst als es völlig verklungen war, griff Nero wieder nach seiner Holzstange und begann, mit voller Kraft zu staken.
»Was war das?«, flüsterte Seth.
»Ein Nebelriese«, antwortete Nero. »Sie sehen in der Dunkelheit auch nicht besser als du. Sie durchstreifen die Sümpfe aufs Geratewohl. Aber wenn sie dich finden, ist es mit dir vorbei.«
»Er ist nah herangekommen.«
»Viel zu nah. Wir hatten Glück, dass er nicht unsere Witterung aufgenommen hat. Das Ungetüm muss ein festes Ziel im Sinn gehabt haben.«
»Das Wasser ist hier nicht tief«, bemerkte Seth.
»Im Sumpf ist das Wasser selten tief. Reicht einem Nebelriesen bis zu den Schenkeln. Aber verhalte dich still. Bald werden wir uns dem Ufer des Zentaurenreichs nähern. Wenn sie dich in ihrem Territorium erwischen, werden sie dich genauso sicher töten wie jeder Nebelriese.«
Ab jetzt schwieg Seth. Die Anspannung angesichts seiner bevorstehenden Mission verscheuchte alle Langeweile. Er stand im Begriff, sich allein in die geheime Festung der Zentauren zu wagen, bewaffnet nur mit einer Banane. Wenn die Zentauren ihn schnappten, würde er nicht nur sterben, sondern er hätte auch einen Krieg vom Zaun gebrochen. Ein ernüchternder Gedanke.
Ohne Vorwarnung lief das Floß auf Grund und klatschte gegen das schlammige, schilfüberwucherte Ufer. »Da wären wir«, flüsterte Nero. »Mach, dass du vom Wasser wegkommst. Halte dich im Schatten. Beeile dich. Es wird spät.«
»Danke fürs Herbringen«, flüsterte Seth zurück. »Bis bald.«
Seth sprang von Bord und landete mit einem lauten Rascheln im Schilf. Er zuckte zusammen und lauschte. Als keine wütenden Zentauren über ihn
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