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Die Zukunft des Mars (German Edition)

Die Zukunft des Mars (German Edition)

Titel: Die Zukunft des Mars (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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forderte mich auf, das Ganze sein zu lassen.
    Offenbar hatte sie still mitgezählt, und nun, wo ich am rechten Rand ihrer Stirn neu beginnen wollte, das bisherige Ergebnis für sich verdoppelt. Ich beharrte darauf weiterzumachen. Und zu meiner Überraschung ließ meine Mutter mich gewähren. Sie meinte sogar, sie habe nichts anderes von mir erwartet. Von Anfang an, kaum hatte die damalige Barmherzige Schwester das Klötzchen aus dem Trommelorakel gezogen, habe sie in meinem Namen, in dessen sprödem «Porr», genau dieses zähe Beharren mitschwingen gefühlt. Allerdings werde auch ein inzwischen vollends stur gewordener Porrporr bald einsehen müssen, dass pures Wollen zu wenig Haare nicht in hinreichend viele Haare verwandeln könne. Mir würde gleich, bevor wir ins Ratsgebäude hinübergingen, nichts anderes übrigbleiben, als sämtliche fein säuberlich angeklebte Kügelchen mit dem Glanzsteinmesser abzutrennen.
    Als der Morgengong ertönte, zählte ich die Kügelchen und damit die grauen und weißen Haare meiner Mutter bereits zum zweiten Mal, und erneut kam ich zum gleichen Ergebnis. Sie nannte mich zunächst einen Dummkopf, danneinen Schwindler, befahl mir schließlich, die Glanzsteinplatte hinter ihren Kopf zu halten. Vorsichtig holte sie die gummibeschwerten Haare nach vorne auf die Brust und begann, die ersten Wörter mürrisch, ja vorwurfsvoll betonend, mit einer eigenen Zählung. Heute behaupte ich vor mir und vor Euch, dass ihr Wunsch, mich der Nachlässigkeit oder der Täuschung zu überführen, schwächer gewesen ist als ihre Sehnsucht, ich könnte recht haben, so unwahrscheinlich die Endzahl auch war, die ich Klümpchen auf Klümpchen, Haar auf Haar, zweimal bestimmt hatte.
    Meine Mutter drehte das letzte, das hundertste Gummikügelchen lange in den Fingerspitzen. Wie ich hatte sie zweimal gezählt, viermal waren wir zum selben, verblüffend runden Ergebnis gekommen. Gleich würden wir ins Haus Für Alle hinübergehen. Einmal im Jahr, immer unmittelbar vor der Ratswahl, treten diejenigen, die sicher sind, erstmals hinreichend weiße oder graue Haare vorweisen zu können, vor die Barmherzige Schwester. Nie habe ich erlebt, dass eine Frau oder ein Mann die vorgeschriebene Zahl, die höchste Zahl, die wir in ein einziges Wort fassen können, nicht erreichte. Aber bis auf den Tag der Zündpechentdeckung war es ebenfalls nie geschehen, dass eine oder einer genau hundert markierte Haare vorweisen konnte. Und auch danach, bis heute, wo ich als unterrichtender Nothelfer vor meinen Erstlingen stand, ist dies kein weiteres Mal mehr vorgekommen.
    Smosmos Vorgängerin im Amt riss meiner Mutter das hundertste Haar aus. Dann hielt sie es in alle vier Himmelsrichtungen. Nach Osten, wo die Glasmacher nach unseren zukünftigen Spiegeln graben, nach Westen, wo mit vergleichbarer Geduld unter Leitung des tüchtigen, alten Sursur nach dem raren orangen Warmstein gewühlt wird, nach Norden hin zu den Faltenhügelchen, die den Blaustein bergen, und dann nach Süden, wo der Purpurspalt qualmt. Alle, dieganz vorne standen, hatten gesehen, dass das ausgerissene Haar zugleich das letzte war, an dem ein Gummikügelchen hing, und sogleich wurde dieser mirakulöse Umstand in die hinteren Reihen weitergeflüstert. Die Barmherzige Schwester hielt das Haar meiner Mutter über eine Steinschmalzkerze, und bevor der Mockmockgummi, der es beschwerte, schmelzen konnte, flammte es knisternd auf und verging.

2
    Zum Mars

Mars ain’t the kind of place
to raise your kids. In fact it’s
cold as hell.
    Bernie Taupin: Rocket Man

Im Advent: Eins
    A lles schien gut gegangen. Dennoch fragte sich Elussa weiterhin, ob der alte Mann insgeheim etwas anderes als Russisch-Stunden von ihr wollte. Blind war er schließlich nicht. Und Elussa wusste, dass sie nicht nur in den beiden Spiegeln ihrer neuen Wohnung, dem schmalen im Flur und dem quadratischen über dem Waschbecken, sondern auch in den Augen der meisten hiesigen Männer noch immer mädchenhaft wirken konnte, obwohl sie sich seit dem letzten Winter regelmäßig, zuletzt heute Morgen, mit zornigem Schwung ein weiteres silbrig graues Ärgernis aus ihrem festen, schwarzen Haar, aus ihrer metallisch glänzenden Tatarenmähne reißen musste.
    Ausgerechnet in diesem Punkt gab es eine offenbare, vielleicht sogar beruhigende Ähnlichkeit: Auch Spirthoffer, ihr neuer Sprachschüler, schenkte dem Blick eines Gegenübers keinen sicheren Hinweis auf das Alter seines Körpers. Als er nach oben gestiegen

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