Die Zukunft des Mars (German Edition)
sein Dialogischer Bruder aus dem Don-Car sprang. Hinter einem anderen Bewaffneten pirschte er über knirschenden Schnee eine Hausmauer entlang und duckte sich unter das Schaufenster eines Ladens. Die große Scheibe umrahmte eine weihnachtliche Dekoration: rote Lämpchen, die in seltsam konvulsivischen Rhythmen, schnell und rätselhaft ungleichzeitig, aus einer grünen Girlande blinkten und blinkten und blinkten.
3
Mockmock
Das Leben ist kein Argument;
unter den Bedingungen des Lebens
könnte der Irrtum sein.
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft
Einmaleins
D ie fremde, kühle Luft schmeckt süß. Aber die süße, fremde Luft tut auch ein bisschen weh. Also versucht Alide ganz sacht, nicht mehr über die Lippen, sondern bloß noch durch die Nasenlöcher in die Tiefe ihres Körpers hineinzuschnaufen. Es hilft sofort. Das Zwicken in der Brust lässt nach. Alide weiß wohl, dass alle Menschen, die guten genauso wie die bösen, da drinnen, rechts und links, je eine Lunge zum Atmen haben. Auch bei den Tieren finden sich, so hat es ihre Klasse im Unterricht gelernt, rundum auf der ganzen Welt zwei solche Pumpsäcke im Leib. Das Bäuchlein ihres Zwergkaninchens, des einzigen Tiers, das sie bisher besitzen durfte, hob und senkte, senkte und hob sich bis ganz zuletzt, bis es mit einem letzten Zittern aufhörte, die Zimmerluft in sich hineinzusaugen, und schon im nächsten Moment, wie kurz zuvor das Meerschweinchen ihrer besten Freundin in Novonovosibirsk, am Schnupfen gestorben war.
Hier ist es gut. Hier ist es besser, als es vorhin war, denn die neue, kühle Luft hält wach. Nachdem Elussa in der Ofenhitze von Opa Spirthoffers Laden die flatternden Lider zugefallen waren und ihr Kopf nach einem komisch wackeligen Hochrucken und einem seltsam japsigen Gähnen ganz langsam auf den Tisch gesunken war, legte Alide ihren Bleistift auf das Rechenheft, guckte zu Opa Spirthoffer hinüber und sah ihn aufstehen. Die Zahlen der allerletzten, der einzigennoch ungelösten Aufgabe wollten nicht aus ihrem Kopf, und, gegen ihren Willen weiter damit vorwärts rechnend, beobachtete Alide, wie Opa Spirthoffer um den langen, um den durch ihre mühselige Rechnerei besonders lang gewordenen Tisch zu ihnen beiden herüberschlurfte. Er guckte dabei nach unten und bewegte die Lippen, vielleicht musste er seinen Füßen jeden einzelnen ihrer Schritte ausdrücklich befehlen.
Schließlich hatten die über hundert Jahre alten Zehen und Fersen den ganzen Weg auf ihre Seite des Tischs gehorsam hinter sich gebracht. Schon zog er ihre arme, fest schlafende Mutter vom Stuhl herunter. Und während er sie dann, langsam rückwärts tapsend, zur hinteren Tür hinüberzerrte, musste er, wahrscheinlich weil er sich an seinem Keuchen verschluckt hatte, innehalten und heftig husten. Wie garstig heiser dies zu ihr herüberklang. Wie klein Elussa war, seit sie in seinen Armen hing. Obwohl Alide es lieber nicht verstanden hätte, musste sie einsehen, dass aus dem lieben Opa Spirthoffer ein böser Opa Spirthoffer geworden war. Fast hätte sie deswegen schlimm Angst bekommen, aber zum Glück war sie unentwegt weiter am Rechnen, sie rechnete und rechnete, rechnete in einem fort und hörte sich selbst mit einem besonderen Ohr, das irgendwo mitten in ihrem Kopf sein musste, bei diesem doofen, aber zugleich Mut machenden Immer-Weiter-Rechnen zu.
Jetzt, hier in der frischen, fremden Luft, spürt Alide noch einmal genau, wie riesengroß ihr Respekt vor den neuen Rechnungen gewesen ist. Bereits am Vormittag, in der Gemeindeschule, waren diese Aufgaben, obwohl die Lehrerin geduldig geholfen hatte, allen, sogar der kleinen Chang, sehr schwierig vorgekommen. Und da die Wärme von Opa Spirthoffers Laden sie müder und müder machte, musste Alide, während sie mit den Zahlen kämpfte und sie langsam, als würden diese allmählich selber müde, in den Griff bekam,immer wieder gähnen, gähnen und schließlich kichern dazu. Denn ihre Mutter war irgendwann von ihrem Mund-Aufreißen angesteckt worden und bekam die Hand gar nicht mehr von den Lippen. So witzig war das, wie sie beide um die Wette nach Luft schnappten, dass sogar Opa Spirthoffer, der bloß noch ein kleines Weilchen liebe Opa Spirthoffer, lachen musste und meinte, er habe heute Nachmittag aber zwei schläfrige Mädchen zu Besuch. Sie sollten unbedingt noch mehr von seinem orangen Tee trinken, denn der könne sogar Tote wieder wach und munter machen. Genau das hatte der in diesem Moment vielleicht schon
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