Die zweite Todsuende
Chief. Dann wies er Boone an zu bleiben, wo er war, und stellte sein Eintreffen im Lauf der nächsten Stunde in Aussicht. Er erwog, mit der U-Bahn zu fahren, überlegte es sich aber anders und nahm das erste Taxi, dem er in den Weg lief. Sollte die Behörde ruhig zahlen. Er rechnete täglich gewissenhaft über seine Spesen ab, und die kamen ihm recht bescheiden vor, obschon er gelegentlich ein Taxi benutzte und das Benzin in Rechnung stellte, das Boone mit seinem Wagen verbrauchte. Und im übrigen mochte Thorsen sich darum kümmern, ihn selbst ging das wenig an.
Die beiden Beamten saßen vorne in Boones Wagen. Er setzte sich nach hinten, hörte, was sie zu berichten hatten, und das war wenig genug. Mama hieß mit Vornamen Rosa, wurde aber von aller Welt nur Mama genannt. Sie ging augenscheinlich auf den Strich, Boone vermutete aber, daß sie nebenher von der Fürsorge was bekam, denn sogar in dieser Gegend mußte man jünger und flotter aussehen, wenn man auf dem Strich seinen Unterhalt finden wollte.
Auch über Dolores war ihnen dies und das bekannt geworden. Mit Mama Perez war sie nicht verwandt; ihre Mutter war eine gewisse Maria Ruiz und wohnte im fünften Stock neben Mama Perez. Maria Ruiz lebte allein, verdiente ihren Unterhalt mühsam genug als Putzfrau in Büros, und Mama Perez nahm sich untertags Dolores' an. Die beiden gingen gemeinsam einkaufen, mal ins Kino und ähnliches. Bei den Nachbarn galt Dolores für schwachsinnig.
«Verkuppelt Mama Perez etwa die Kleine?» fragte Delaney.
Jason glaubte dies nicht. Als sie ihn in der Seitengasse der Ludlow Street ansprach, wies er ihr Anerbieten, wenn auch höflich, zurück, ließ aber deutlich durchblicken, was Jüngeres könnte ihn durchaus interessieren. Mama war darauf jedoch nicht eingegangen.
Da saßen sie denn zu dritt im Wagen, mitten im Straßenlärm und Getümmel, ganz auf die Tür des Hauses konzentriert, in dem Mama Perez wohnte - eine häßliche graue Mietskaserne; die wenigen zur Tür führenden Stufen waren beschädigt und mit spanischen Krakeleien beschmiert, der Bürgersteig fast völlig verstellt von überquellenden Mülltonnen. Abgemagerte, kränkliche Katzen strichen vor der Haustür umher, schlichen den schmalen Plattenweg entlang, erkletterten die außen angebrachte rostige Feuerleiter. Nach einer Weile tauchten Straßenhändler mit T-Shirts und billigen Sonnenbrillen auf und boten ihre Ware an tragbaren Tischen feil.
Der Chief sagte schließlich: «Na, dann wollen wir mal. Eine kleine Unterhaltung mit Mama scheint denn doch geboten.»
«Und wie gehen wir dabei vor?» fragte Boone. «Wenden wir gleich Druck an?»
«Nein, das wird kaum nötig sein. Auf keinen Fall fassen wir sie an. Hat Mama Sie als Polizisten erkannt, Jason?»
«Ganz bestimmt nicht, Chief.»
«Trotzdem … kommen Sie lieber mit, Sie sind ihr dann zwar bekannt, als Beamter, aber sie weiß dann auch, daß Sie sie wegen Aufforderung zur Unzucht anzeigen könnten, und das mag für uns von Vorteil sein.»
Sie stiegen aus, und Boone schloß sorgfältig den Wagen ab. «Ich hoffe bloß, die Räder sind noch dran, wenn wir runterkommen», sagte er bekümmert.
Eingang und Flur der Mietskaserne entsprachen ihren Erwartungen; mit Platten ausgelegter, schmutziger Fußboden, die Wände in 50 Jahren immer mal wieder überpinselt - wo die Farbe blätterte, sah man das ganze Regenbogenspektrum. Es erinnerte an Ausgrabungen, die Schichten freilegen. Die Birnen der Treppenbeleuchtung waren kaputt, die Fenster auf den Treppenabsätzen gesprungen, der hölzerne Handlauf des Treppengeländers voll eingeschnitzter Initialen, stellenweise auch sinnlos mit dem Messer malträtiert. Dazu der Geruch - er hing in der Luft wie Nebel, der sich nicht auflöst, den nichts vertreiben kann. Es war, als wäre er hier versprüht worden.
Neben den meist schadhaften Klingeln standen keine Namensschilder, doch gab es immerhin Briefkästen - einige aufgestemmt -, und die zeigten eine M. Ruiz im fünften Stock, Wohnung C. und eine R. Perez in D. Auf dem etwas mühsamen Aufstieg ließen sie Kinder an sich vorbei die Treppe runtertoben und machten einer Hochschwangeren Platz, die überdies zwei Winzlinge mit verdreckten Gesichtern an der Hand führte.
Auf dem Absatz des fünften Stocks blieben sie stehen, um Atem zu holen und gingen dann zur Tür der Wohnung D, die allerdings nicht mit einem Blechschild gezeichnet war, sondern nur mit einem Filzschreiber. Boone legte das Ohr an die Tür, lauschte, nickte
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