Diebin der Nacht
Caroline hatte ganz einfach einen Marschbefehl gegeben, und alle mussten folgen.
Auch Lance Streeter hatte ihr am Montag das Leben durch eine überschwängliche Kolumne schwer gemacht, die in der Hauptsache aus hochtrabendem Blödsinn über die »Heirat der Saison« bestand. Das Telefon hatte bis spät am Abend nicht stillgestanden vor lauter Anrufen von wohlwollenden Freunden, die eine Litanei klischeehafter Glückwünsche aussprachen, was ihr schon bald pochende Kopfschmerzen eingebracht hatte.
Mystere empfand die ganze Ironie ihrer Situation. Es war noch nicht allzu lange her, und zwar während ihrer letzten Mietdroschkenfahrt durch Brooklyn, dass sie sich geschworen hatte, »ihren eigenen Weg zu gehen«. Und nun das-eine öffentliche Pseudoverlobung, die ihr voll und ganz aufgezwungen worden war und die ihr das Gefühl gab, in einem gläsernen Käfig zu sitzen, in dem man jede ihrer Bewegungen von jedem Winkel aus beobachten konnte. Unter solchen Umständen war ihre Chance, Bram zu finden, etwa genauso groß geworden wie die, auf den Mond zu kommen.
Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte, so war es ihr außerdem noch nicht gelungen, das Diadem aus Pauls Tresor zu holen. Dieses Vorhaben erhielt mit der Ankunft der Post am Dienstagmittag eine neue Dringlichkeit.
»Da liegt ein Brief für dich auf dem Ständer«, informierte Rose sie, als Mystere gegen ein Uhr am Mittag nach unten kam. »Die Anschrift des Absenders lautet Staten Island«, fügte sie hinzu, und Mystere spürte, wie eine dunkle Vorahnung ihren Puls beschleunigte. Wenn Rafe Belloch im Spiel war, so war keine Nachricht eine gute Nachricht.
Sie nahm den sauber getippten Umschlag vom Marmorständer und öffnete ihn mit zitternden Fingern. Der ebenfalls sauber getippte Brief mit dem Vermerk »Original bei den Akten« bedurfte keiner Erklärung. Obwohl sie kaum darin erwähnt wurde, so verdammte der Brief aus Stephen Breaux’ Anwaltskanzlei in New Orleans doch potentiell Paul und seine ganze »Familie«, sie selbst eingeschlossen.
Während sie den Brief las, arbeitete Rose in ihrer Nähe, indem sie geschäftig mit einem Staubwedel über die Korridormöbel fuhr.
»Mystere! Was ist los?«, wollte sie wissen, denn die junge Frau wurde plötzlich bleich.
»Dieses dumme Diadem«, antwortete sie, den Tränen der Verzweiflung nahe. »Rafe übt Druck auf mich aus, um es zu bekommen.«
»Du wirst wohl kaum eine Chance haben, es dir heute zu holen«, bemerkte Rose besorgt. »Paul hat mir aufgetragen, alle seine Verabredungen abzusagen, da er sich angeschlagen fühlt. Er wird wahrscheinlich den ganzen Tag über im Bett bleiben.«
Paul ... Mystere riss den Umschlag und den Brief in Stücke, warf diese in den in der Nähe stehenden Abfalleimer und schüttelte ihn dann, um sicherzugehen, dass nichts mehr zu sehen war. Ein Grund, warum er sich wie ein Schneekönig über die Verlobung freute, war natürlich der, dass er sich erhoffte, durch Rafes Geld seine Fehlinvestitionen ausgleichen zu können. Er würde Grauen erregend sein in seiner Wut gegen sie, wenn sie das jemals gefährden würde. Noch schlimmer wäre es jedoch, wenn er erfahren würde, dass Rafe den Modus Operandi des alten Diebes herausgefunden hatte.
Es ist die Aufmerksamkeit, die Mrs. Astor ihm schenkt, erinnerte sie sich. Die hat ihm mehr als alles andere den Kopf verdreht, denn sie bedeutet nicht nur bestätigte Anerkennung seines Ansehens, sondern auch höchste Klassifizierung. Noch mehr als Armut fürchtete er also eine Entlarvung, denn die würde ihn um seine Auszeichnung bringen. Und das machte ihn, ungeachtet seines Alters, gefährlich.
Rafe war zweifellos ein starker und fähiger Mann, und er war wahrscheinlich relativ sicher, wenn er sich zu Hause in Garden Cove aufhielt. Sobald er jedoch Staten Island verließ, setzte er sich leichtsinnigerweise der Gefahr eines Angriffs aus - was ihr eigener Überfall auf ihn vor zwei Jahren bewies. Evan oder Baylis würden nicht zögern, ihn auf Pauls Befehl hin umzubringen - da war sie sich sicher. Sie würden wahrscheinlich alles verkehrt machen und schon kurz darauf erwischt werden, aber das würde Rafe dann auch nicht wieder lebendig machen.
Mitten in ihre bekümmerten Gedanken hinein schrillte das Telefon. Rose ging an den Apparat.
»Ja, Sir«, hörte Mystere sie sagen. »Zufälligerweise steht sie gerade direkt neben mir. Einen Moment bitte.«
Sie hielt Mystere den Hörer entgegen. »Für dich. Es ist dein Verlobter.«
Dein Verlobter.
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