Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
Richtung. Meine Blase drängte. So wäre nichts einfacher gewesen, als in ein nächstes Café zu gehen und nach einer Toilette zu fragen. Ich fragte. Erfolglos. Ich sah zu kaputt aus, keiner ließ mich über die Schwelle. So lief ich – nun gejagt von brausender Not – über den Quai de la Tournelle zur Seine hinunter. Da war der Not kein Ende, denn nun stellte sich heraus, dass zwei der drei Flohmarkthosen mit einem stramm vernähten Hosenschlitz versehen waren. Mir blieb nichts anderes übrig, als im hellsten Dezemberlicht drei bizarr gestückelte Beinkleider abzustreifen und in verschämter Hocke in die Seine zu machen. Dabei redete ich mir ein, dass es nicht viele Liebende in Paris gab, die zu solch lächerlichen Positionen bereit waren, um einer Frau nahe zu sein.
Als Celeste am Nachmittag allein zurückkam, saß ich längst wieder auf dem Bürgersteig. Nun auf der richtigen Seite des Eingangs. Die nächsten Sekunden hatte ich zu oft trainiert, um einen Fehler zu machen: Als sie auf gleicher Höhe war, sprach ich sie an, bettelte mit verstellter Stimme und verstecktem Gesicht um ein »petit cadeau«. Sie hielt, lächelte und kramte in ihrer Handtasche. Und in dem Augenblick, in dem sie das Geld in den Becher legte, drehte ich den mit meiner Elendsstory beschrifteten Karton um und hielt ihr einen Text entgegen, den sie sofort erkennen musste. Hatte sie ihn doch geschrieben, an mich, damals unterm Rajasthanhimmel.
Die Szene saß. Wir redeten kein Wort, lieber nicht. Viele in dem Quartier kannten sie, wussten, dass sie mit jemandem zusammenlebte. Aber sie schien gerührt von der Inszenierung. Sie warf das Geld hinein und strich beim Zurückziehen ihrer Hand schnell über meine dreckigen, kaltzitternden Finger.
Ich könnte noch heute nicht alle Gründe aufzählen, warum ich so nach ihr hungerte. Weil sie nie ganz meinen Hunger stillte? Weil ich jeden Quadratzentimeter ihrer Haut jedes Mal neu verführen musste? Weil sie so rar war, nur wenige Männer so nah hatte kommen lassen? Weil sie wie keine verstand, nach letzten Beweisen zu fragen? Weil sie einen Tag nach meinem Leben als Hungerleider beschloss, mich nicht mehr zu sehen?
Celeste kippte, der Druck auf ihr Gewissen ließ sie davonrennen. Sie schrieb, dass ihre Lügen an den Fotografen und ihre Versuchung nach mir nicht mehr vereinbar wären. Jetzt müsste sie ihr Herz sondieren, um herauszufinden, wohin sie wollte, wohin sie musste. Zudem pflegte sie weiterhin ihr Misstrauen, unter » PS « notierte sie den eigenartigen Satz von Erich Fromm: »Vernarrtsein ist oft das Gegenteil von Liebe.«
Unsere Trennung hielt nicht. Weil ich Celeste zurückhaben wollte, auch nicht einsehen konnte, dass ein mäßig begabter Knipser mit einer Frau davonging, die ihn an allen Ecken und Enden überforderte. Er ängstigte nicht, genau das. Und Celeste, selbst getrieben von schwarzen Erinnerungen, schien dankbar für seine problemlose Nähe. Die war nicht aufregend, aber sie verwundete nicht, vertiefte nicht hauchdünn verschlossene Narben.
Meine Wut stieg, ich packte immer häufiger meinen Zynismus aus, um den Typen und den nun immer lauter werdenden Verdacht zu ertragen, dass ich gegen ihn verlieren würde. Absurd: Von diesem Verdacht wusste ich schon. Der andere, der entscheidende, blieb mir verborgen. Noch immer.
Am nächsten Silvesterabend stürmte ich ihre Wohnung. Der Fotograf war wieder auf Reisen, ich kam gerade zurück. Jetzt musste ein Kraftakt her, um ihm Celeste zu rauben. Auch war ich überzeugt, dass sie sich nun in einem Zustand befand, aus dem sie ohne (stürmische) Hilfe von außen nicht mehr herausfinden würde. Zu blockiert schien sie von ihren eigenen Widersprüchen.
Die Eroberung sollte heiter und unter Gelächter stattfinden. So ließ ich eine gute Freundin bei Celeste anrufen, die sich als Telefonfrau aus der Notrufzentrale der Feuerwehr vorstellte. Man hätte einen dringlichen Hinweis aus der Nachbarschaft erhalten: ein Kleinkind befände sich auf dem Dach, direkt oberhalb der Wohnung von Celeste. In einigen Minuten würde ein Feuerwehrmann bei ihr läuten, sie solle umgehend den Zugang zu den Fenstern freimachen und sofort öffnen, wenn es klingelte.
Der Feuerwehrhauptmann war ich. Tagelang hatte ich die nötigen Utensilien zusammengekauft, Helm, Gesichtsschutz, Uniform, Handschuhe, Stiefel, rannte mit einer Leiter über der Schulter die drei Stockwerke hoch, mitten hinein in die weit geöffnete Wohnungstür. Aber die Wohnungsbesitzerin nahm
Weitere Kostenlose Bücher