Diese Nacht darf niemals enden
inzwischen fast zehn Jahre her, seit die schwere Robe der Verantwortung auf seine Schultern gelegt worden war, bedingt durch den frühen Tod seines Vaters. Damals war Guy Anfang zwanzig gewesen, und seither hatte er sich den nie endenden Pflichten der Position gebeugt. Doch er fühlte sich längst nicht mehr wohl in dieser Position – falls er sich je darin wohl gefühlt hatte. Die Verantwortung war ein zu hoher Preis für die Privilegien, die die Stellung mit sich brachte. Ein Preis, dessen Höhe plötzlich zerstörerische Ausmaße angenommen hatte.
Und ich habe keine andere Wahl, als ihn zu bezahlen.
Guy durchlief das Ritual der Begrüßung – Heinrich und seine Frau Annelise im Audienzsaal ihres Schlosses in den Alpen. Einst hatte es einem Erzherzog gehört. Das Wappen der Habsburger hing noch immer über dem großen offenen Kamin. Heinrich wurde nicht müde, die Verbindung seines Heims zur Aristokratie zu erwähnen. Dass dieses Schloss von der Lorenz-Familie übernommen worden war, lag nicht weiter als ein Jahrhundert zurück. Aber auch das erfüllte Heinrich mit maßlosem Stolz. Genau wie Heinrich immer übermäßig stolz auf seinen Scharfsinn in finanziellen Dingen gewesen war.
Hochmut kommt vor dem Fall.
Das Bibelzitat drängte sich in Guys Gedanken. Lorenz Investment stand am Abgrund, auch wenn man es bei Heinrichs überschwänglicher Begrüßung wahrlich nicht vermuten sollte. Dabei wusste der Mann genau, wie es um seine Bank stand.
Lange hatte Guy den vorliegenden Bilanzen vertraut und sich um andere Teile innerhalb des Konzerns gekümmert, die aufgrund der Wirtschaftskrise ins Trudeln geraten waren. Erst jetzt hatte Heinrich das getan, was er schon vor sechs Monaten hätte tun sollen – nämlich den tatsächlichen Stand der Dinge offenlegen.
Und nun hatte er um das ultimative Rettungspaket gebeten. Eines, das nicht nur seine Bank retten würde, sondern ihm auch den sehnlichsten Wunsch erfüllen sollte.
Ob Heinrich das alles von Anfang an geplant hatte? Ausschließen konnte Guy es nicht. Heinrich hatte schon immer ehrgeizig danach getrachtet, seinen Einfluss in der Familie auszuweiten. Allerdings hatte Guy sich bisher nie sehr kooperativ gezeigt, nicht nur aus geschäftlichen Überlegungen – wobei sich jetzt zeigte, wie klug er damit gehandelt hatte –, sondern aus viel triftigeren Gründen.
Heinrich hatte nämlich nicht nur eine Schwäche für fürstliche Residenzen, er hielt auch die Gepflogenheiten der Aristokratie für nachahmenswert.
Wie zum Beispiel dynastische Eheschließungen.
Jahrelang hatte Guy die mehr und oft auch weniger diskreten Anspielungen ignoriert. Heinrich besaß keine Söhne, sondern nur eine Tochter, um seinen Platz innerhalb Rochemont-Lorenz zu übernehmen. Na und? Sie lebten mittlerweile im einundzwanzigsten Jahrhundert. Inzwischen waren viele der hohen Ränge innerhalb des Unternehmens mit Frauen besetzt. Warum also sollte Louisa, insofern sie genügend Sachverstand besaß, nicht ebenfalls eine entsprechende Position besetzen, wenn die Zeit kam?
Nicht, dass Louisa bisher durch Scharfsinn in der Finanzwelt aufgefallen wäre. Wenn Guy sich recht erinnerte, studierte sie Ökologie oder etwas Ähnliches. Vage entsann er sich auch, dass sie eher einen schüchternen Eindruck machte.
Ob nun schüchtern oder nicht, sie würde heute Abend doch wohl anwesend sein, dachte Guy finster. Bisher war sie ihm allerdings nicht begegnet. Und trotz Heinrichs lautem Empfang und Annelises gezierter Herzlichkeit war ihm aufgefallen, dass der Blick der beiden immer wieder zu der breiten Treppe ging, die in die oberen Etagen führte.
Anfangs hatte Louisas Abwesenheit Guy sogar erleichtert. Doch je mehr Minuten verstrichen und mit unwichtigem Small Talk vergingen, desto ungeduldiger wurde er.
„Wo ist Louisa?“, fragte er schließlich geradeheraus.
Seine Frage löste hektische Verlegenheit bei Heinrich und Annelise aus, was ihn nur noch mehr verärgerte.
„Du musst ein wenig Verständnis zeigen“, antwortete Annelise schließlich. „Natürlich will sie den besten Eindruck bei dir machen, Guy. Sie weiß doch, wie hoch deine Ansprüche an das schöne Geschlecht sind. Sicher gibt sie sich die größte Mühe, um … Ah, sieh nur“, die Erleichterung in ihrer Stimme war nicht zu überhören, als sie erneut zur Treppe sah, „da kommt sie ja!“
Auch Guy drehte sich um. Auf der Treppe stand Louisa, seine Braut.
Es wäre wohl schwierig, jemanden zu finden, der weniger seinem Bild von
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