Dieser graue Geist
was ihre Geschlechtszugehörigkeit bedeutete. Alle anderen Wünsche mussten sich hinter dieser obersten Priorität einordnen. Und sie beneidete Thriss darum, Zhavey sein zu dürfen! Ihr gemeinsames Kind würde seine Existenz mit Dizhei beginnen, doch Thriss würde es austragen und zur Welt bringen. Es verblüffte Dizhei immer wieder, wie wenig Thriss auf dieses Privileg gab. Dabei war es die größte Ehre überhaupt! Kein medizinischer oder akademischer Ruf kam dem gleich. Als sie noch zur Schule gingen, war Thriss von allen für ihr lebhaftes Wesen, ihren Hunger nach neuen Erfahrungen und ihren Unwillen, sich den Geboten Älterer unterzuordnen, bewundert worden. Doch Dizhei hatte nie verstanden, was daran so romantisch sein sollte.
Seit sie mit Thriss verbunden war, sah sie zu, wie sich ihre zh’yi den Lebensweg von ihren Launen und Leidenschaften diktieren ließ. Nicht von Prinzipien. Und seit einigen Jahren stand Shar im Zentrum ihrer Leidenschaft, war alles andere zweitrangig geworden. Selbst die Aussicht auf ein gemeinsames Kind schien für Thriss weniger die Erfüllung eines Lebensziels zu sein, als ein Weg, Shar noch enger an sich zu binden.
Thriss und Shar brachen das Abkommen ihrer Bündnisgruppe. Und je länger Dizhei den Konsequenzen dieses Bruchs zusah, desto deutlicher wurde ihr die Weisheit der Älteren, die sich in den Grenzen des Shelthreths spiegelte. Intimitäten gehörten der Gruppe. Auch Dizhei empfand Verlangen, doch wie Thriss bewies, konnte es schwere Folgen haben, diesem nachzugeben. Das war ein Risiko, das sie nicht eingehen wollte. Ohne Führung lief Thriss Gefahr, ihre Pflichten als Zhavey zu missachten und Shar blindlings nachzurennen. Sollte das geschehen, war Dizhei bereit zu tun, was sie immer tat: den Schaden zu reparieren.
Thriss seufzte, schmiegte sich an sie und riss Dizhei aus ihren Gedanken. Sie schlang die Arme um die Partnerin, hielt sie fest. Ich hoffe, ich irre mich, zh’yi . Ich hoffe, ich irre mich bezüglich vieler Dinge.
»Es gibt nichts zu verstehen, sh’za «, sagte Thriss schließlich. »Ich liebe dich und Anichent nicht weniger als Shar.«
Dizhei strich mit der Hand über das Kinn ihrer Gefährtin und sah ihr ins geliebte, vertraute Gesicht. Was Thriss sagte, strafte die Bilder in Dizheis Erinnerung Lügen: Bilder von Shar in den Schatten, der vorgab, alles sei wie immer, doch dessen dunkle Augen das Gegenteil verrieten. Dizhei genoss Thriss’ Wärme und die Umarmung. Doch so sehr ihr Thriss’ romantische Ader gefiel, desto sicherer wusste sie, welche Gefahr sie für ihr gemeinsames Ziel barg. Also löste sie sich von Thriss und ergriff wieder ihre Hände. »Lüg mich nicht an, zh’yi «, bat sie sanft.
»Ich weiß nicht, was du …«, begann Thriss, halbherzig zu protestieren.
»Lüg. Mich. Nicht. An«, wiederholte sie. »Wir sind verbunden. Ich spüre Dinge, wusste es immer schon. Auch Anichent weiß es, will es sich aber nicht eingestehen. Wir wissen, dass du und Shar das Tezha geteilt habt.«
Thriss zuckte zusammen. »Wir haben nichts Falsches getan. Wir gehören doch einander. Du und ich … Wir könnten es ebenfalls tun.« Sie hob die Hand, berührte Dizheis Gesicht.
Dizhei schob sie fort. »Es war ein Fehler. Ein ernster Fehler. Aber es ist geschehen.« Obwohl Thriss geständig war, wallte Neid in Dizhei auf – und der Wunsch, ihrem Zorn nachzugeben. Aber sie konnte und durfte diesen Konflikt nicht weiter schüren. Ich werde es nicht hinnehmen. Ich werde dir nicht gestatten, zu glauben, deine Tat sei entschuldbar, da sie schließlich alles zerstören kann, auf das wir hingearbeitet haben. Oh, wie sehr sie Thriss diesen Egoismus austreiben wollte! Wie sehr sie ihr verdeutlichen wollte, dass sie nicht das Recht besaß, ihr Leben wegzuwerfen – weil dadurch auch ihres, Dizheis eigenes Leben, seinen Sinn verlor.
Jahre waren seitdem vergangen, doch Dizhei entsann sich jedes Details jenes Tages, an dem Shar und Thriss das Abkommen ihrer Gruppe verletzten. Sie erinnerte sich an die nächtliche Panik, als niemand die beiden hatte finden können. Hinterher hatte Shar behauptet, für den Unterricht gelernt zu haben. Thriss sei ihn suchen gegangen, und gemeinsam hätten sie sich jenseits des Campus verirrt. Beide hatten beteuert, zwischen ihnen sei nichts Verbotenes geschehen, und Dizhei hatte ihnen geglaubt. Insbesondere Shar, dem der Frust über Thriss deutlich anzusehen gewesen war.
Ein andermal hatte Dizhei stundenlang darauf gewartet, dass er von
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