Dieser Mann ist leider tot
Abstellplätze für Rollstühle, sechs Klappstühle, einen winzigen Altar und oben hinter dem Kruzifix ein winziges Buntglasfenster (von hinten durch eine kleine gelbe Notlampe beleuchtet). Lia parkte Phoebe auf einem der Rollstuhlplätze und setzte sich daneben auf einen Klappstuhl.
Vielleicht hatte ich noch einen Grund – außer daß ich Cal und Mama miteinander alleinlassen wollte –, mit Phoebe hier herunterzukommen, dachte Lia. Vielleicht bin ich, wie Phoebe, zum Beten hier, um mir selbst nahe zu kommen, indem ich Gott nahe komme. Habe ich Cal nicht deshalb gesagt, wir sollten anfangen, wieder zur Kirche zu gehen? Oder bin ich schlichtweg erschlagen von dem, was Shawanda und ich heute morgen in der Praxis erlebt haben?
Phoebe Flack starrte zu dem geisterhaften Schimmer über dem Altarkreuz hinauf und bewegte die runzligen Lippen. Lia versuchte, ebenfalls zu beten. Gott hilf mir, intonierte sie lautlos. Gott hilf mir. Es wurde ihr Mantra, eine Beschwörungsformel, bis etwas in der Tasche ihrer Jeans sie stach und ihre Gebetsinnigkeit zerstörte, so daß sie sich auf dem Stuhl zur Seite lehnte, um den Gegenstand herauszupuhlen.
In ihrer Hand hielt sie die Fischbrosche, die sie am Vormittag an ihrem Blazer gefunden hatte. Sie spiegelte sich einen Moment lang blinkend in Phoebes erstauntem Auge.
Lias erster Impuls war es, die Nadel von sich zu schleudern, als sei sie eine Spinne, die ihr über die Handfläche kroch. Aber sie hielt inne und starrte konsterniert – ja, angstvoll – auf das gutgearbeitete Schmuckstück. Sie legte die Nadel zwischen die jeansumhüllten Oberschenkel auf das olivgrüne Metall der Sitzfläche. Dann legte sie die Hände auf die Knie und betrachtete den Intaglio-Fisch mit starrem Blick.
Während der Fisch an Helligkeit und Kontur zunahm, verschwammen die Wände und die Einrichtung der Kapelle. Lias Augen vergrößerten das Objekt wie ein Mikroskop, das ein Objekt auf einer Glasscheibe erfaßt. Was Phoebe Flack anging, so verblaßte sie – ja, es verblaßte das ganze Eleanor-Roosevelt-Pflegeheim. Nur der goldene Fisch existierte weiter, ein Prüfstein auf den schwindenden Stuhl.
Wo bin ich? fragt Lia sich. Wohin bin ich gegangen? Sie versucht, die Augen zu schließen. Es ist schwer, beinahe unmöglich. Aber schließlich gelingt es ihr. Als sie sie wieder aufmacht, findet sie sich herausgeputzt im Hochzeitskleid.
Die Besenkammer-Kapelle ist zur Grotte in einem Freiluft-Heiligtum geworden, von Sandsteinsäulen umgeben, von ragenden Arabesken in Ocker und Navajo-Rot.
Lia begreift, daß die Hochzeitszeremonie, die jetzt ihren Lauf nimmt – ihre –, dies unter der Pracht des blauen Himmels im ›Garten der Götter‹ in Colorado tut. Hunderte von Menschen nehmen teil, und der Mann, der sie weggibt, ist ihr toter Vater. Nicht als Leichnam, Gott sei Dank, sondern als der Mann, der er Mitte der siebziger Jahre gewesen sein muß, glühend vor Stolz und Lebenskraft. Miss Emily, ihr Bruder Jeff und ihre Schwägerin und Dutzende von Tanten, Onkeln und Cousinen stehen hinter ihr und ihrem Daddy und schauen zu.
Der zelebrierende Geistliche hat einen Bart und einen elfenbeinweißen Kragen, aber sein Gesicht ist nicht klar, als habe das Sonnenlicht seine Züge herausgebleicht. Schon argwöhnte Lia, daß das unkenntliche Antlitz dem Mann gehört, der sie heute in der Praxis aufgesucht hat. Anscheinend ist er Mitglied einer geheimen, wenn auch freundlichen Priesterschaft.
»Gib ihr die Nadel!« weist der Mann den Bräutigam an.
So war es nicht, erinnert sich Lia, während sie sich Cal zuwendet, der vor dem Sandsteinaltar erschienen ist, bekleidet mit einer weißen Lederjacke mit langen Fransen wie ein Cowboy in einer Traumsequenz.
Es gefällt ihr, wie er aussieht, aber so ist es nicht gewesen. Sie wurden im Arbeitszimmer von Arvill Rudds Ranch durch einen Friedensrichter getraut (ihre Eltern konnten nicht dabei sein); Arvills Frau Bernadine war ihre Ehrendame, und Arvill selbst hat den Trauzeugen abgegeben. Ihre Hochzeitsreise war eine Wildwasserfloßfahrt über einen Abschnitt des Arkansas River bei miserablem Wetter.
»Mit dieser Nadel nehme ich dich zur Frau«, sagte Cal im Schatten der erhabenen Felsen zu ihr. Und er heftet ihr die Brosche ans Kleid.
»Liebet, ehret, erfreuet einander und seid verbunden«, ermuntert der Geistliche sie. »Ihr mögt euch nun küssen.« (Seine Stimme ist die Stimme ist die Stimme …)
Und sie küssen einander, winzige Figürchen im Diorama des
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