Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
darüber. Wir sagen uns alles, was uns durch den Kopf geht, okay? Keine Geheimnisse.«
»Versprochen«, sagte ich erleichtert und hielt meine Hand zum Abklatschen in die Luft. Lars schlug ein, legte sich neben mich, rückte die Decke zurecht und stellte den Laptop auf seinen Bauch.
»Bereit?«
Dann begann er ganz langsam vorzulesen:
Lieber Lars,
ich weiß eigentlich, wie es mir geht, aber ich bin zu stolz, es mir einzugestehen. Ich wurde in drei Wochen zweimal am Herzen operiert. Montag war die zweite OP , nachdem die erste nichts gebracht hatte. Endlich hat mein Herz wieder richtig geschlagen. Nach einem vierstündigen Eingriff ohne Betäubung, weil ich sonst abgenippelt wäre. Heute bin ich zum Arzt gegangen. Kontrolluntersuchung. Ich war so glücklich, und dann sagt er mir, dass die schlimmen Extraschläge wieder da sind. Sofort wieder in die Klinik. Langzeit- EKG . Dann wird weitergeschaut. Sie haben noch nie einen solchen Fall gehabt. Ich bin kerngesund, alles in Ordnung, nur mein Herz macht, was es will. Und mein Herz, das brauche ich noch. Du kannst dir vorstellen, wie ich mich fühle, weil ich glaube, dass du die Gabe hast, dich in andere hineinzuversetzen. Ich fühle mich zwischen stark und schwach. Zwischen Opfer und Kämpfer. Zwischen »Ich kann nicht mehr« und »Jetzt erst recht«. Ich erkenne mich nicht wieder und sehe mich zum ersten Mal so wie ich bin: sensibel, verletzlich, bescheiden, frei von Arroganz.
Es ist rührend und traurig zugleich. Aber vor allen Dingen empfinde ich Demut. Respekt. Ehrfurcht. Und dann frage ich mich, wie kann dein Daniel schlafen? Wie sagt er »Gute Nacht«? Wie verabschiedet er sich von seiner Mutter, wenn ihr einen seiner Wünsche erfüllen geht? Wie erklärt er sich, dass es ihn und nicht einen anderen getroffen hat? Wann hat er aufgehört zu weinen, um stattdessen zu lachen?
Mit deinen Zeilen hast du mir Mut gemacht. Der Junge hat mir Mut gemacht. Sogar ohne dass ich viel über sein Schicksal weiß. Er ist so jung. So jung. Diesen Satz habe ich im Krankenhaus gehört. Von allen Seiten. Von 90 -Jährigen. Von 70 -Jährigen. Von Ärzten. Von Schwestern. Und jedes Mal, wenn ich das hörte, kam mir die Kotze hoch. Die Wut. Ich fragte mich, was das Alter damit zu tun hat. Jetzt weiß ich es. Je jünger der Mensch, desto ungerechter ist es. Warum? Ich weiß warum. Ich fand die Antwort auf die Frage, warum ich traurig wäre, wenn ich sterben würde, als ich in der Krankenhaus-Kapelle saß. Und sie lautete: »Ich wäre traurig, weil mein Herz aufgehört hätte zu schlagen, bevor ich es jemandem geschenkt hätte.« Und das ist der Grund, warum es ungerecht ist. Ein Herz ist dazu da, um für jemanden zu schlagen. Und wer früh geht, geht vor der ersten Liebe. Und genau deshalb ist es traurig.
Deine Camille
Ich lag die ganze Zeit regungslos da und weinte still in mich hinein, aber als Lars nichts mehr sagte und seinen Laptop vom Bett stellte, ließ ich die Tränen einfach laufen. Ich zitterte am ganzen Körper und drückte mich fest an Lars’ Hals, und er hielt mich und sagte: »Lass alles raus, Daniel. Lass es raus. Das ist okay. Das ist okay.«
Jetzt weinte er auch. Ich machte mir fürchterliche Sorgen um seine Freundin, und bei dem Gedanken, dass sie vielleicht bald sterben würde, fing ich noch mehr an zu weinen. Dann lagen wir einfach nur da. Ich bin immer erschöpft, wenn ich mich aufrege und weine, weil mein Herz dann viel mehr arbeiten muss. Anstrengung ist mein Tod, und weinen ist für mein Herz wirklich ganz besonders anstrengend. Lars reichte mir das Glas mit dem kalten Ginger Ale. Danach ging es mir etwas besser.
»Woran denkst du?«, fragte mich Lars.
»An Camille«, sagte ich. »Sie tut mir so leid.«
»Ich weiß.«
»Hast du denn alles verstanden, was sie geschrieben hat?«
»Ich weiß nicht.«
»War ganz schön viel, hmm?«
Ich nickte und wischte meine restlichen Tränen an Lars’ Kapuzenpulli ab. Ich wollte nicht mehr traurig sein, aber ich konnte es nicht abstellen. Ich konnte nur noch an Camille denken. Ab und zu muss ich auch ein Langzeit-EKG tragen. Das ist voll ätzend. Und wenn es meinem Herzen schlecht geht, finden die Ärzte auch nie heraus, woran es liegt.
Dann klopfte Mama an die Tür und rief aus dem Flur, dass das Abendessen fertig sei, und Lars und ich riefen gleichzeitig zurück: »Kommen gleich.« Wir guckten uns an und fingen an zu lachen.
»Sie darf noch nicht sterben«, sagte ich.
»Sie schafft das. Lass uns positiv
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