Dieses heiß ersehnte Glueck
eine Beute herabstoßen konnte.
»Ich würde mir deinen Freund gerne mal ansehen«, sagte Wes.
Abe drehte, Leah ignorierend, sich wieder Wes zu. »Er ist nur ein Junge, arglos und friedlich; aber wenn Sie ihn sehen wollen .. . Bud, komm mal hierher!«
Leah füllte gerade einen zweiten Becher Kaffee und hätte ihn fast in die Glut fallen lassen, als sie der Gestalt ansichtig wurde, die nun aus dem Schatten hervortrat. Vielleicht war es nur ein Schatten, denn so einen großen Mann hatte sie in ihrem Leben noch nicht gesehen. Sowohl Wesley wie Travis waren groß gewachsene kräftig gebaute Männer; aber im
Vergleich zu diesem jungen Mann waren sie nur Zwerge. Dieser maß mindestens einen Meter fünfundneunzig, wenn er nicht gar zwei Meter erreichte.
Er trug eine ausgebeulte, grobgewebte Leinenhose, die in hohen schwarzen Schaftstiefeln steckte. Sein Oberkörper war nackt bis auf ein Schaffell, das er um eine Schulter geschlungen hatte, und seine Arme konnte man nur als kolossal bezeichnen. Sie glichen eher modellierten Baumstämmen als Armen, wobei ihr Besitzer tatsächlich dem Knabenalter kaum entwachsen zu sein schien. Er hatte ein hübsches Gesicht, dem das Lächeln jedoch offenbar fremd war; der Hals mußte ungefähr den Umfang von Leahs Taille haben.
»Nur einer von den Jungs«, wiederholte Abe, ein Kichern in der Stimme.
»Kaffee?« gelang es Leah, den Riesen zu fragen, wobei sie den Hals verrenken mußte, um ihm ins Gesicht schauen zu können.
»Bud hält sich die Hände lieber frei«, sagte Abe, als habe der Junge noch keine eigene Meinung. »Ihr beiden seid auf der Durchreise?«
»Auf der Jagd«; antwortete Wes, der sich immer noch nicht von seinem Schlafplatz fortbewegt hatte und es vermied, dem Riesen neben dem Feuer den Rücken zuzukehren.
Abes spindeldürre Gestalt richtete sich mit knackenden Gliedern wieder neben dem Feuer auf. »Wir müssen weiter. Vielen Dank, Missus.« Er reichte Leah seinen leeren Becher, und in diesem Moment war sie sich sicher, daß er sie erkannte. Seine eng beieinanderliegenden kleinen Augen bohrten sich in die ihren und glitten dann rasch an ihrem Kleid hinunter, das viel besser war als alles, was sie früher auf der Farm getragen hatte.
»Komm, Bud«, sagte er und bewegte sich wieder in den dunklen Wald hinein, während der schweigsame Riese ihm lautlos wie ein Schatten folgte.
Leah schwirrte der Kopf, wobei ihr fieberhaftes Nachdenken von der Gewißheit beherrscht wurde, daß Abe nichts Gutes mit ihnen Vorhaben konnte. Denn ihres Wissens war er nie einer ehrlichen oder ordentlichen Beschäftigung nachgegangen, und deshalb war ihr Verdacht keine Überraschung für sie.
»Was, glaubst du, haben die beiden von uns gewollt?« fragte Wesley, der sie über das Feuer hinweg beobachtete.
Leah zuckte bei dem Klang seiner Stimme schuldbewußt zusammen. Sie konnte einem Vertreter des Standes, dem Wesley angehörte, schwerlich erzählen, was für eine niederträchtige Kreatur ihr Bruder sei und daß er vermutlich beabsichtigt hatte, sie auf den Kopf zu schlagen und auszurauben. Vielleicht hatte er im letzten Augenblick davon Abstand genommen, weil er noch einen Rest von Familiengefühl besaß. Wahrscheinlich hatte er sie aber nur verschont, weil sie beide schon wach gewesen waren. Abe erstach die Leute lieber von hinten und im Schlaf.
»Ich vermute, sie waren wie wir nur Durchreisende«, sagte sie und streckte sich, daß ihre Schultergelenke knackten. »Mein Gott, bin ich müde! Es dauert keine Minute, und ich bin wieder eingeschlafen.«
Und dann machte sie ein großes Gewese mit den Decken und den mit trockenem Laub gefüllten Sack, auf dem sie ruhte, zeigte Wes ein glückliches Lächeln, gähnte und sah dann wirklich so aus, als sei sie eingenickt.
Doch noch nie in ihrem Leben war sie so wach gewesen wie in diesem Augenblick. Irgendwo in ihrer Nähe schlich ihr hinterhältiger, feiger, diebischer, heimtückischer und verräterischer großer Bruder im Wald herum — und sie wußte, daß er von ihr Geld verlangen würde, wenn er ihnen beiden keinen anderen Kummer bereiten sollte.
Jede Pore ihres Körpers schien in die Dunkelheit hineinzulauschen. Sie hielt den Atem an, als Wes, offensichtlich von ihren Worten und ihrem Theater überzeugt, sich auf seinem Lager ausstreckte.
Eine Stunde verging, und Leahs Arme und Beine begannen zu schmerzen. Wann würde Abe denn endlich zuschlagen? Sie hatte sich vorgenommen, zu Wesleys Lagerstatt hinüberzurollen und sich mit seinem
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