Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
wie sie gesagt hätten). Glynis stellte sich üblicherweise auf Jacksons Seite. Sie beide dachten pragmatisch ( hartherzig , hätten die anderen beiden gesagt). Wenn Glynis jetzt schon dafür war, eine Frau künstlich am Leben zu erhalten, die älteren Fotos zufolge gar nicht unansehnlich gewesen war und die – wenn sie wüsste, dass sie auf jeder Titelseite quer durch die Nation als verfettete, hirnlose, schwabbelige Schwachsinnige prangte – sich im Grabe umdrehen würde, wenn man ihr denn eines gönnte … Shep musste sich wohl geirrt haben. Krebs veränderte doch den Charakter.
ALS SIE SCHLIESSLICH in der Konditoreitorte herumstocherten, war die Stimmung ernüchtert. Alle schienen sich wieder an den Anlass des Abends zu erinnern; es war nach Mitternacht, und bis zu Glynis’ Operation waren es nur noch anderthalb Tage. Sie brauchte jetzt vermutlich ihren Schlaf. Sie sah müde aus, und Jackson wollte gerade das Abschiedswort sprechen, da ging sie zum Angriff über.
»Jackson, hast du inzwischen noch mal überlegt, mit welchen Produkten du und Shep in den frühen Achtzigern gearbeitet habt?«
»Also, ich hab wirklich darüber nachgedacht, aber …«
»Jackson und ich haben darüber gesprochen, und ich hab dir auch gesagt, dass wir darüber gesprochen haben«, sagte Shep ungewöhnlich gereizt. »Wir sollten dieses Thema lieber lassen.«
»Also, mir macht das jetzt –«
»Aber mir«, sagte Shep.
»Wenn irgendeine Firma euch das angetan hätte«, fuhr Glynis ihre Gäste an, »würdet ihr das Thema einfach lassen ?«
»Wenn du recht hast«, sagte Shep und sprach zweifellos deshalb so ausdruckslos und monoton, um nicht laut zu werden, »dann könnte jeder an diesem Tisch den Fasern ausgesetzt gewesen sein – ich würde mir wünschen, dass wir uns alle in erster Linie darauf konzentrieren, dass du wieder gesund wirst.«
»Wenn ich hinfalle und mir den Kopf aufschlage, ist das eine Sache«, sagte Glynis. »Oder wenn ich mein ganzes Leben lang geraucht hätte und dann Krebs bekäme. Aber das hier ist mir angetan worden . Und zwar von Leuten, die bewusst medizinische Beweise unterschlagen haben. Die tödliche Produkte auf den Markt gebracht haben, um damit Geld zu machen. Diese Leute sollen dafür zahlen.«
Shep blickte seine Gäste betrübt an. Die beide waren gute Freunde von ihm, seit Jahrzehnten, doch es gehörte nicht zu seinen Angewohnheiten, sich in ihrer Gegenwart mit seiner Frau zu streiten. »Ich weiß, es ist ungerecht«, sagte er leise. »Aber am Ende bist du es, die zahlt, Gnu, selbst wenn du den Prozess gewinnst.«
»Wer so sehr auf Geld aus ist, den kann man nur dadurch bestrafen, indem man es ihm wieder wegnimmt«, sagte Glynis. Dafür, dass sie krank und der Abend lang gewesen war, legte sie erstaunlich viel Elan an den Tag, und Jackson gewann einen Einblick in den Reiz ihrer fixen Idee: Sie gab ihr Kraft. »Es gibt eine ganze Gruppe von Anwälten, die auf Mesotheliom spezialisiert sind und im Internet Werbung machen. Sie konzentrieren sich ausschließlich auf Asbest, und sie arbeiten erfolgsabhängig. Es würde uns also keine zehn Cent kosten, falls es das ist, was dir Sorgen macht.«
Jackson sah Shep nur selten mit seiner Selbstbeherrschung kämpfen. Aber er hatte die Kiefer zusammengepresst und hielt sein Besteck wie eine Heugabel. »Ich wiederhole: Die Geschäftsunterlagen aus dieser Zeit sind nicht mehr verfügbar. Ich habe mich bei Pogatchnik erkundigt. Ich habe ausgiebig recherchiert und mich über alle suspekten Materialien schlau gemacht, mit denen wir bei Allrounder gearbeitet haben könnten. Hin und wieder kommt mir ein Markenname irgendwie bekannt vor. Aber ›irgendwie bekannt vorkommen‹ wird keinem Kreuzverhör standhalten. Ich habe keine, Glynis, keine handfesten Beweise, dass ich jemals mit irgendeinem Produkt gearbeitet habe, dessen Hersteller wir vor Gericht bringen können.«
Jackson fragte sich, zum wievielten Mal Shep inzwischen diese Rede hielt. Da Glynis sie auch diesmal nicht zur Kenntnis zu nehmen schien, tippte er auf mehrmals. »Wenn man ein Produkt kauft, und vor allem, wenn man beruflich damit arbeitet, verlässt man sich darauf, dass der Hersteller ein Gewissen hat! So viel Vertrauen muss man haben, dass ein Stück Brot, das man kauft, kein Arsen enthält! Beim Silberschmieden muss ich doch davon ausgehen können, dass ich einen Klumpen Lötmetall erhitzen kann, ohne dass giftige Dämpfe entweichen, oder dass das Stück Silber, das ich in die Beize tauche,
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