Diesseits vom Paradies
feucht und kalt an.
Dann hörte er ein gespanntes Flüstern, keine drei Meter von ihm entfernt.
Er erstarrte.
»Keinen Ton!« Es war Alecs Stimme. »Jill – hörst du mich?«
»Ja…«, hauchte es sehr leise, sehr ängstlich. Sie waren im Badezimmer.
Dann hörte er ein lauteres Geräusch irgendwo draußen auf dem Flur – das Gemurmel von Männerstimmen und wiederholt ein gedämpftes Pochen. Amory warf die Decken ab und ging dicht an die Badezimmertür heran.
»Mein Gott!«, kam wieder die Stimme des Mädchens. »Du musst sie reinlassen.«
»Scht!«
Plötzlich begann es gleichmäßig und beharrlich an Amorys Eingangstür zu klopfen, und gleichzeitig kam Alec aus dem Badezimmer, gefolgt von dem Mädchen mit den zinnoberroten Lippen. Beide waren im Pyjama.
»Amory!« Ein ängstliches Flüstern.
»Was ist los?«
»Das sind Hausdetektive. Mein Gott, Amory – sie suchen bloß einen Präzedenzfall.«
»Dann lass sie besser rein.«
[356] »Verstehst du denn nicht, sie können mich mit dem ›Mann Act‹ drankriegen.«
Das Mädchen folgte ihm langsam, eine ziemlich erbärmliche Jammergestalt im Dunkeln.
Amory versuchte, sich schnell etwas auszudenken.
»Du machst einen Höllenspektakel und lässt sie in dein Zimmer«, schlug er ängstlich vor, »und ich schleuse inzwischen das Mädchen durch meine Tür raus.«
»Hier sind sie doch auch. Sie werden deine Tür im Auge behalten.«
»Kannst du keinen falschen Namen angeben?«
»Keine Chance. Ich habe mich unter meinem eigenen Namen eingetragen; außerdem kriegen sie’s über das Autokennzeichen raus.«
»Sag, ihr seid verheiratet.«
»Jill sagt, einer von den Hausdetektiven kennt sie.«
Das Mädchen hatte sich weitergetastet und aufs Bett fallen lassen; lag einfach da und horchte unglücklich auf das Klopfen, das allmählich zu einem Hämmern angeschwollen war. Dann ertönte eine männliche Stimme, zornig und im Befehlston: »Öffnen Sie, oder wir brechen die Tür auf!«
In dem darauf folgenden Schweigen bemerkte Amory, dass noch andere Dinge im Raum waren außer Menschen… über der zusammengekauerten Gestalt auf dem Bett und um sie her schwebte eine Aura, spinnwebzart wie ein Mondstrahl, mit einem Geruch wie schaler, wässriger Wein, dennoch etwas Grässliches, das bereits verschwommen und unheildrohend über ihnen dreien hing… und drüben am Fenster zwischen den gebauschten Vorhängen stand etwas anderes, gesichtslos und kaum wahrnehmbar, dennoch [357] seltsam vertraut… Im selben Moment offenbarten sich Amory, Seite an Seite, zwei große Tatsachen; alles, was daraufhin in seinem Hirn vor sich ging, spielte sich tatsächlich in weniger als zehn Sekunden ab.
Die erste Tatsache, die ihm blitzartig aufging, war die große Unpersönlichkeit im Akt der Aufopferung – er begriff, dass das, was wir Liebe und Hass, Lohn und Strafe nennen, ebenso wenig damit zu tun hatte wie das genaue Datum. Rasch rekapitulierte er im Geiste die Geschichte einer Aufopferung, von der er im College gehört hatte: Ein Student hatte bei einer Prüfung gemogelt; sein Zimmergenosse hatte in einer sentimentalen Anwandlung die ganze Schuld auf sich genommen; infolge der Schande, die dies über ihn brachte, schien die Zukunft des Unschuldigen gänzlich der Reue und dem Versagen anheimgegeben, wobei die Undankbarkeit des wahren Schuldigen dem Ganzen die Krone aufsetzte. Er hatte sich schließlich das Leben genommen – Jahre später erst war die Wahrheit ans Licht gekommen. Damals hatte die Geschichte Amory verstört und beunruhigt. Jetzt erkannte er die Wahrheit: dass Aufopferung nicht Freiheit erkaufen konnte. Es war wie ein großes Amt, in das man gewählt wurde, oder Macht, die man erbte – für bestimmte Leute zu bestimmten Zeiten ein absolut wesentlicher Luxus, der keine Garantie, sondern eine Verantwortung bedeutete, keine Sicherheit, sondern ein unendliches Risiko. Ebendas, was ihn dazu trieb, mochte ihn ins Verderben stürzen – wenn die Woge des Gefühls verebbte, die es ermöglichte, mochte sie sehr wohl den, der es tat, für immer auf einer Insel der Verzweiflung stranden lassen.
[358] Amory wusste, dass Alec ihn später insgeheim dafür hassen würde, dass er so viel für ihn getan hatte…
All dies breitete sich vor Amory aus wie eine geöffnete Schriftrolle, während zugleich von außen diese beiden atemlos lauschenden Kräfte auf ihn einwirkten: die spinnwebfeine Aura, die das Mädchen umgab, und dieses vertraute Etwas am Fenster.
Aufopferung war ihrer
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