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Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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einem Wutanfall auch noch den Rest heruntergerissen. Jetzt heißt es, neue zu sammeln, und je weiter du beim Sammeln nach vorne schaust, desto besser. Aber denk dran, tu immer das Nächstliegende!«
    »Wie klar Sie die Dinge darstellen können!«
    So sprachen sie viel über sich selbst, mitunter auch über Philosophie und Religion, und über das Leben als Spiel oder Geheimnis. Der Geistliche schien Amorys Gedanken zu [157] erraten, bevor sie noch in seinem eigenen Hirn Gestalt angenommen hatten, so ähnlich war ihr Denken in der Art und Weise und in der Richtung.
    »Warum mache ich immer Listen?«, fragte Amory ihn eines Abends. »Listen von allem Möglichen?«
    »Weil du ein mittelalterlicher Mensch bist«, antwortete Monsignore. »Das sind wir beide. Uns treibt die Leidenschaft, alles zu klassifizieren und das Typische herauszufinden.«
    »Es ist der Wunsch, etwas ganz klar zu erfassen.«
    »Das ist der Kernpunkt der scholastischen Philosophie.«
    »Ich hab schon geglaubt, ich würde allmählich exzentrisch – bis ich herkam. Es war wohl eine Pose, nehme ich an.«
    »Darum mach dir keine Sorgen; wenn du gar nicht posierst, ist das vielleicht die größte Pose. Posiere ruhig…«
    »Ja?«
    »Aber tue das Nächstliegende.«
    Nach seiner Rückkehr ins College erhielt Amory mehrere Briefe von Monsignore, die seiner Selbstgefälligkeit noch mehr zu schlucken gaben.
    Ich fürchte, dass ich Dich in zu großer Sicherheit gewiegt habe; Du musst stets bedenken, dass ich dies im Vertrauen auf Deine künftigen tatkräftigen Bemühungen getan habe und nicht aus der leichtfertigen Überzeugung, dass Du Deinen Weg ohne Schwierigkeiten gehen wirst. Mit einigen Deiner Charakterzüge wirst Du Dich – für Dich selbst – abfinden müssen, doch solltest Du sie anderen gegenüber nicht zu deutlich werden lassen. Du bist [158] unsentimental, kaum wahrer Zuneigung fähig, gewitzt, dabei ohne Hinterlist, eitel, doch ohne Stolz.
    Halte Dich nicht für wertlos; oft im Leben wird es dann am schlimmsten um Dich stehen, wenn Du die beste Meinung von Dir hast; und mach Dir keine Sorgen, Deine »Persönlichkeit« zu verlieren, wie Du sie weiterhin so beharrlich nennst; mit fünfzehn warst Du strahlend wie der junge Morgen, mit zwanzig geht allmählich der melancholische Glanz des Mondes von Dir aus, und in meinem Alter wirst Du, wie ich, die milde goldene Wärme des späten Nachmittags verströmen.
    Wenn Du mir schreibst, dann bleib bitte ganz natürlich. Dein letzter Brief, diese gelehrte Abhandlung zur Architektur, war absolut grauenvoll – so ganz und gar »Intelligenzbestie«, dass ich daraus ersehe, in welchem intellektuellen und emotionalen Vakuum Du lebst; und hüte Dich davor, die Menschen allzu streng nach Typen einzuteilen; denn sie neigen, wie Du bald bemerken wirst, in der Jugend nun einmal dazu, lästigerweise dauernd von einer Klassifizierung zur nächsten zu springen; und wenn Du jedem, dem Du begegnest, ein geringschätziges Etikett verpasst, schaffst Du Dir damit nur Springteufel, die aus der Schachtel schnellen und dich gehässig anschielen, sobald Du in wirklich feindlichen Kontakt mit dieser Welt kommst. Die Idealisierung eines Mannes wie Leonardo da Vinci wäre im Augenblick ein wertvolleres Leitbild für Dich.
    Es ist Dir bestimmt, Höhen und Tiefen zu durchleben, so wie ich es in meiner Jugend erfahren habe, aber behalte dabei einen klaren Kopf, und wenn Narren oder Weise zu [159] kritisieren wagen, mach Dir kein allzu großes Gewissen daraus.
    Du sagst, dass nur die Konventionen Dich bei den »Frauengeschichten« nicht vom Weg abkommen lassen; aber es ist mehr als das, Amory; es ist die Angst, nicht mehr aufhalten zu können, was Du begonnen hast; Du würdest Amok laufen, und ich weiß, wovon ich spreche; es ist dieser fast übernatürliche sechste Sinn, mit dem man das Böse aufspürt, es ist die halbbewusste Gottesfurcht in Deinem Herzen.
    Auf welchem Gebiet Du Dich einmal betätigen wirst – sei es Religion, Architektur oder Literatur –, ganz bestimmt wärest Du viel sicherer im Schoße der Kirche aufgehoben, aber ich möchte nicht meinen guten Einfluss aufs Spiel setzen, indem ich darüber mit Dir streite – wenn ich mir im Inneren auch sicher bin, dass der »schwarze Abgrund des Römisch-Katholischen« in Deinen Tiefen gähnt. Schreibe mir bald.
    Mit herzlichen Grüßen
    Thayer Darcy
    Selbst Amorys Lektüre wurde farbloser in dieser Zeit; er wagte sich weiter in die nebulösen Seitenpfade der Literatur:

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