Diesseits vom Paradies
gegen Mittag aufgestanden, hatte mit Mrs. Lawrence gegessen und war dann in Gedanken versunken im Oberstock eines seiner geliebten Busse nach Hause gefahren.
»Warum solltest du nicht gelangweilt sein«, gähnte Tom. »Ist das nicht die übliche Geistesverfassung für einen jungen Mann deines Alters und deiner Lebenslage?«
»Ja, schon«, sagte Amory grüblerisch, »aber ich bin mehr als gelangweilt; ich bin rastlos.«
»Liebe und Krieg haben dich ruiniert.«
»Hm«, überlegte Amory, »ich bin nicht sicher, ob der Krieg auf dich oder mich tatsächlich großen Einfluss gehabt hat – aber er hat mit Sicherheit den vertrauten Hintergrund zerstört, in gewisser Weise den Individualismus aus unserer Generation getilgt.«
Tom sah überrascht auf.
»Jawohl«, beharrte Amory. »Ich bin nicht mal sicher, ob er ihn nicht aus der ganzen Welt getilgt hat. Du lieber Himmel, was war es für ein Vergnügen, mir auszumalen, ich würde ein großer Diktator oder Schriftsteller oder religiöser oder politischer Führer – und jetzt würden nicht einmal Leonardo da Vinci oder Lorenzo de Medici wie ein Blitz auf die Welt niederfahren. Das Leben ist einfach zu gewaltig und zu komplex. Die Welt ist so übermäßig angeschwollen, dass sie nicht mehr ihre Finger heben kann, und ich wollte ein so bedeutender Finger sein…«
[308] »Da bin ich anderer Meinung«, unterbrach Tom. »Nie zuvor waren Männer in so eigennützigen Positionen seit – seit der Französischen Revolution.«
Amory widersprach heftig.
»Du irrst dich, wenn du diese Epoche, in der jeder Einfaltspinsel sich Individualist nennt, als eine Epoche des Individualismus ansiehst. Wilson war nur mächtig, wenn er repräsentierte; er musste einen Kompromiss nach dem anderen schließen. Sobald Trotzki und Lenin entschieden und konsequent Farbe bekennen, werden sie schnell von der Bildfläche verschwinden wie Kerenski. Selbst Foch ist nicht halb so bedeutend wie Stonewall Jackson. Krieg war immer ein höchst individualistisches Unternehmen des Menschen, und dennoch hatten die populären Kriegshelden wie Guynemer und Sergeant York weder Autorität noch Verantwortung. Wie soll ein Schuljunge aus Pershing einen Helden abgeben? Ein bedeutender Mann hat eigentlich zu nichts anderem Zeit, als dazusitzen und bedeutend zu sein.«
»Dann glaubst du also, dass es keine ewigen, weltberühmten Heldenfiguren mehr geben wird?«
»Doch – in der Geschichte – aber nicht im Leben. Carlyle hätte Schwierigkeiten, Stoff für ein neues Kapitel zu ›Der Held als Big Man‹ zusammenzubekommen.«
»Red weiter. Ich bin heute ein guter Zuhörer.«
»Die Leute versuchen heutzutage so verzweifelt, an Führer zu glauben, dass sie einem leid tun können. Aber kaum haben wir einen populären Reformer oder Politiker oder Soldaten oder Schriftsteller oder Philosophen – einen Roosevelt, Tolstoi, Wood, Shaw oder Nietzsche –, wird er von der Gegenströmung der Kritik schon wieder hinweggespült. [309] Meine Güte, heutzutage steht kein Mann Berühmtheit durch. Sie ist der sicherste Weg, in Vergessenheit zu geraten. Die Leute haben es schnell satt, immer wieder denselben Namen zu hören.«
»Dann lastest du es also der Presse an?«
»Absolut. Schau dich an; du bist bei der New Democracy, die als brillanteste Wochenzeitung des Landes gilt und von den Leuten gelesen wird, auf die es ankommt. Was ist deine Aufgabe? Doch wohl, so schlau, interessant und auf glänzende Weise zynisch wie nur möglich über jede Person, Doktrin, Schrift oder Politik zu schreiben, mit der du dich auftragsgemäß beschäftigst. Je stärker du die Sache ausleuchten und als geistigen Skandal hinstellen kannst, desto mehr zahlen sie dir, und desto mehr Leute kaufen die Ausgabe. Du, Tom D’Invilliers, ein verhinderter Shelley, unbeständig, wetterwendisch, schlau und skrupellos, repräsentierst das kritische Bewusstsein der Menschen – nein, protestiere nicht, ich weiß Bescheid. Ich habe im College oft genug Buchrezensionen geschrieben; es war für mich ein seltenes Vergnügen, auf den neuesten redlichen und gewissenhaften Versuch einer Theorie oder Heilslehre hinzuweisen; es war eine ›willkommene Beigabe zu unserer leichten Sommerlektüre‹. Na los, gib’s zu.«
Tom lachte, und Amory fuhr triumphierend fort.
»Wir wollen einfach glauben. Junge Studenten versuchen, an ältere Autoren zu glauben, Wähler versuchen, an ihre Vertreter im Kongress zu glauben, Länder versuchen, an ihre Staatsmänner zu glauben, aber
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