Diktator
Was kann man mehr von ihnen verlangen? Wir bauen hier ein Reich auf. Wir müssen die Herzen der nächsten Generation gewinnen. Und das schafft man nicht, wenn man Kinder schikaniert.«
»›Die Herzen gewinnen.‹« Heinz lachte. »Du quatschst vielleicht einen Mist, Ernst.« Er grinste und warf Viv im Rückspiegel einen Blick zu. »Weißt du, es gibt immer noch Gerüchte, dass du diesem kleinen Schätzchen auch noch andere Sachen als Deutsch beibringst. Ach, komm schon, Ernst, dir musst doch klar sein, wie das aussieht. Alle Jungs sagen das.«
»Dann irren sich die Jungs, oder?«
»Wir treffen doch alle solche Arrangements. Ich zum Beispiel habe eine Abmachung mit einer Lady in Rye. Ihr Mann ist ein Drückeberger, ein Kriegsdienstverweigerer. Er ist in London im Gefängnis gelandet, und dort sitzt er immer noch, soweit meine Freundin weiß. Nennen wir sie ›Mrs. X‹.«
»Meinetwegen.«
»Also, es geht ihr nicht besonders gut. Wie die Engländer nun mal so sind, verachten sie sie wegen der Feigheit ihres Mannes viel mehr, als sie uns verachten. Darum schließen sie Mrs. X aus der gegenseitigen Hilfe in den vielen kleinen Dingen aus, die das Leben erträglich machen. Nicht nur, was den Schwarzmarkt betrifft – niemand will als Gegenleistung dafür, dass sie einen Kuchen backt, ihre Kartoffeln ausbuddeln, und solche Sachen. Und sie hat einen Sohn, einen Jungen von ungefähr zehn Jahren. Ständig hungrig, der Kleine! Also ist es schwer für sie.«
Ernst hatte davon gehört; der Kasernenklatsch drehte sich nicht ausschließlich um ihn. »Du nutzt sie also aus.«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich unterstütze sie mit meiner Ration. Manchmal ein Stück Schokolade für den Jungen und so. Ich sage den Jungs, sie sollen nicht so streng mit ihr sein, wenn sie ankommen und Sachen aus ihrem kleinen umgepflügten Garten requirieren.«
»Und was kriegst du dafür?«
Er grinste. »Ich will dir mal was von Mrs. X erzählen. Sie ist älter als wir, Ernst. Ende dreißig. Aber sie ist eine kräftig aussehende Frau, groß, mit langen Gliedern. Dunkle Haare, dunkle Augen. So ein gewisses Etwas, eine traurige herbstliche Schönheit. Und große, schwere Brüste.« Er nahm die Hände vom Lenkrad, um das pantomimisch darzustellen.
Ernst schaute voller Unbehagen zu den Kindern zurück. Eingeschüchtert wandten sie den Blick ab.
»Das tun wir alle«, fuhr Heiz fort. »Und wenn’s das
nicht ist, weshalb bleibst du dann bei diesen Leuten in ihrem jämmerlichen Bauernhaus? Ich mache mich nicht über dich lustig, Ernst. Ich will’s wirklich wissen.«
»Ich fühle mich verantwortlich, Heinz. So was in der Art.«
Heinz lachte. »Verantwortlich wofür? Du hast Seelöwe nicht angeordnet.«
»Nein. Aber diese unglückliche Familie ist auseinandergerissen worden. Das wäre nicht passiert, wenn wir nicht hier wären, oder?«
»Die beiden da hinten scheinen die Besatzung recht bereitwillig zu akzeptieren.«
»Ich glaube, sie suchen Stabilität«, sagte Ernst. »Ihre Mutter und ihr Vater reden kaum miteinander, und das Baby – sagen wir einfach, diese beiden sehen für mich wie ein Ordnungspol aus.«
»Ha! Geht das schon wieder los. Du nimmst dich zu ernst, mein Lieber. Obergefreiter Trojan, der Nachfolger von Nietzsche! Also wirklich. Hör auf, so viel nachzudenken, und besorg’s der Kleinen mal richtig. Ich sehe doch, dass sie sich danach sehnt. Und du wahrscheinlich auch.«
Aber darin zumindest irrte sich Heinz, dachte Ernst. Er hatte Claudines letzten Brief in der Jackentasche, dieses kleine Artefakt, das von ihren Händen in seine gelangt war, und er spürte, wie dessen scharfe Ecken sich durchs Hemd in die Haut drückten. Und er hatte alle Hoffnung, dass es ihm nach dem Ende der Feierlichkeiten zum Trafalgar-Tag – dem neuesten Gedenktag
im endlosen Strom solcher ›die Moral hebender‹ Anordnungen der Militärregierung – gelingen würde, die Verabredung einzuhalten, die er mit ihr getroffen hatte, dass er noch vor der Sperrstunde hinausschlüpfen konnte und …
Vor ihnen gab es eine Explosion, einen scharfen Knall. Der Lastwagen vor ihnen hielt plötzlich an, und Heinz musste bremsen. Ernst wurde nach vorn geworfen.
»Scheiße«, rief Heinz.
»Ich hab’s dir doch gesagt, wir fahren zu dicht auf.«
Eine Salve energischer Befehle ertönte, alle auf Deutsch. Ernst sah Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS von den Lastwagen springen. Die Fahrzeuge rumpelten wieder vorwärts, aber nur, um von der Straße
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