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Dog Boy

Dog Boy

Titel: Dog Boy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Hornung
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an die unheimliche Stille und die Dunkelheit im Gebäude gewöhnt. Er stieg in die vierte Etage hinauf und klopfte halbherzig bei Frau Schiller, wohl wissend, dass sie nicht da war. Die Tür war nicht abgeschlossen. Er zog sie auf und marschierte in ihre Wohnung. Obwohl er geahnt hatte, dass es anders aussehen würde, als er es in Erinnerung hatte, war der Anblick ein Schock. Ihre große Zweizimmerwohnung war leer, überall lag Müll. Durch die vorhanglosen Fenster fiel grelles Licht. Draußen wiegten sich die Baumwipfel mit den letzten goldenen Blättern lautlos im Wind. Er stapfte wieder nach unten.
    An seiner eigenen Wohnungstür zögerte er einen Moment. Die Wohnung sah so gemütlich aus, dass er eintrat, als wäre alles völlig normal. Er setzte sich auf die zerfetzte Schlafcouch und sah sich nach seiner Mutter um. Dabei ignorierte er die Lücken, in denen eigentlich der Fernseher, der Tisch und das Bücherregal stehen sollten. Dann ging er hinaus, machte kehrt und trat wieder ein, doch der seltsame Effekt hatte sich verflüchtigt.
    Ihm knurrte der Magen. Er nahm seinen roten Eimer undlegte ein schwarzes Samtband hinein, das seiner Mutter gehört hatte. Dann lief er die drei Treppen hinunter, an der ausgebrannten Wohnung in der ersten Etage vorbei und die Haupttreppe hinab. Der Schalter zum Öffnen der Tür funktionierte nicht, aber am Türpfosten war ein schmaler weißer Spalt zu sehen. Er musste sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür werfen, damit sie aufschwang und das grelle Herbstlicht hereinfiel.
    Romotschka ließ die Hände wieder sinken. Hunger und Kälte hatten ihn die Treppe hinabgelockt, doch jetzt war beides wie weggeblasen. Es war ein schöner Spätherbsttag – mit einem weiten weißen Himmel. Trocken, aber sehr kalt. Nach dem flüchtigen Schnee, der zwei Tage zuvor gefallen war, hatte es sogleich getaut, doch jetzt waren die Temperaturen wieder gefallen, und es schneite heftig. Seine Laune besserte sich ein wenig. Es konnte doch nicht so schwer sein, etwas zu essen und ein warmes Plätzchen zu finden. Den Erwachsenen gelang das schließlich immer, egal, ob sie Geld hatten oder nicht.
    Von außen wirkte das Gebäude ungewohnt still. Es war schon alt, viele der Fensterscheiben waren zerbrochen oder hatten Risse. Nirgendwo hingen Vorhänge, und in den dunklen Zimmern hinter den Fenstern regte sich nichts. Es gab keinerlei Anzeichen von Menschen, nur von ihrem überstürzten Aufbruch – die Abdrücke von Handwagenrädern und eine Spur zerknüllter Papiertaschentücher, durch den Staub geschleifter Möbel und irgendwelcher Gegenstände, die von vielen Füßen zertrampelt worden waren, führten vom Haus fort.
    Romotschka stand in der Tür und beobachtete die auf dem Gehsteig vorbeigehenden Leute. Fast alle kamen ihm vertraut vor, denn sie wohnten in der Nachbarschaft. Dennoch kannte er ihre Namen nicht. Sie kamen und gingen und kamen wieder, doch es tauchte niemand auf, der in seinem Gebäude wohnte. Vielleicht sollte er jemanden auf sich aufmerksam machen, jemandem sagen, dass er ganz allein war. Die Leute würden es ernst nehmen – in seinem Alter durfte man nicht mutterseelenallein draußen herumlaufen. Er hielt Ausschau nach jemandem, den er kannte, jemandem, der ihm keine Angst machte. Vielleicht der kahl geschorene Gitarrenspieler aus dem blauen Gebäude drei Türen weiter. Oder die dicke Frau aus der Mietskaserne an der Ecke. Sie hatte drei große, grässliche Kinder, die aber heute nicht bei ihr waren. Oder die alte Frau mit dem hübschen cremefarbenen Spitzentuch, die ihre beiden prall gefüllten awoski trug. Er sah, dass aus einer von beiden ein Brot hervorschaute, aber das genügte nicht, um sie anzusprechen. Schließlich verzichtete er darauf, jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Sein Misstrauen siegte. Immer wieder hörte er die Stimme seiner Mutter: Sprich nicht mit fremden Leuten!
    Er stand auf der Stufe, zog die kalten Zehen ein in seinen Stiefeln, streckte sie wieder aus, blickte niemanden an. Ein paarmal wiegte er sich hin und her. Sein Eimer stieß gegen seine Schenkel. Er stellte ihn kurz auf der Stufe ab und klatschte die Fäustlinge zusammen, hielt aber auf halbem Weg inne, Handfläche an Handfläche. Von einem Erwachsenen in dieser Haltung hätte man geglaubt, er bete. Bei einem Vierjährigen sprach es eher für Unschlüssigkeit, so groß, dass sein Körper erstarrte, damit er nachdenken konnte.
    Die Straße lag da wie ausgestorben. Hier und da schimmerten ein paar

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