Dohlenflug
Häufchen Elend mit starrem Blick.
»So war es wahrscheinlich auch gedacht: Sowie ich wieder zu
Bewusstsein komme, Fredls blutüberströmte Leiche sehe und das
blutige Messer in meiner Hand, da sollte ich durchdrehen … und mich
so als Mörderin anbieten!«
Die letzten Worte schrie sie
schluchzend und verstummte dann. Redl hütete sich, sie in dieser
Phase mit Zwischenfragen zu bedrängen.
»Nur – ich hab
nicht durchgedreht«, setzte sie nach einer langen Pause leise fort,
als wäre sie darüber selbst erstaunt. »Zunächst bin
ich nah dran gewesen, das geb ich gern zu. Als ich dann aber kreuz und
quer durch den Karteisenwald ins Angertal hinuntergestolpert bin, hatte
ich Zeit nachzudenken. Ich bin die ganzen naheliegenden Klischees im Geist
durchgegangen und hab sie alle als unlogisch abgehakt.«
»Welche Klischees? Was
meinst du?«, fragte Redl, erstaunt über die erwachsene
Ausdrucksweise der Vierzehnjährigen.
»Zum Beispiel
Folgendes: Ich, eine durchgeknallte Minderjährige, hätte meinen
erwachsenen Lover wegen Beziehungsstress massakriert. Oder: Ich hätte
ihn im Drogenrausch abgestochen, schließlich war ich ja eine Zeit
lang total weggetreten. Oder: Meine Mom hätte den sogenannten
Kinderschänder durch den Mord endlich zur Verantwortung gezogen.«
Ihr Gesicht verzog sich
wieder zu einer weinerlichen Grimasse. »Aber das alles ist doch
Bullshit! Ich hätte Fredl nie was getan – und schon gar nicht
als zugedröhnter Junkie! Von hartem Stoff hab ich immer die Finger
gelassen. Aber nicht, weil ich so vernünftig bin, von wegen. Ich hab
einfach Angst vor dem Zeug. Gut, Fredl und ich haben manchmal gutes Gras
geraucht, das er aus Holland mitgebracht hat. Aber das war’s dann
auch schon, warum also hätte ich ihn abmurksen sollen? Er hat mir
Freiheiten ermöglicht, die mir Mom noch in Jahren nicht zugestehen
wird. Aber sie hat ihn erst recht nicht abgestochen, sie hat doch nicht
die blasseste Ahnung von unsrer Beziehung, nicht die geringste. Ehrlich
gesagt bin ich sowieso nicht gerade scharf drauf, ihr unter die Augen zu
treten.«
»Ich nehm’s dir
ab, dass du Schleißheimer nicht umgebracht hast.« Redl überging
bewusst ihre letzte Anmerkung.
Als er einen dankbaren Blick
erntete, legte er rasch nach: »Auch einige von meinen Kollegen sind
dieser Meinung, aber wenn wir deine Unschuld beweisen wollen, brauchen wir
deine Unterstützung, um den wahren Täter aufzuspüren.«
»Was … was
erwarten Sie von mir?«
Das ließ sich Redl
nicht zwei Mal fragen: »Erzähl mir, was du seit Samstag erlebt
und getan hast, und bemüh dich dabei um größtmögliche
Genauigkeit und Vollständigkeit.« Er nahm einen Taschenrekorder
aus seinem Rucksack. »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich das
Gespräch aufnehme und mir nebenher noch Notizen mache?«
Sie schüttelte den Kopf.
Nein, sie hatte nichts gegen eine Aufzeichnung ihrer Erlebnisse der
letzten drei Tage. Auf keinen Fall wollte sie das alles länger allein
mit sich herumtragen.
Angesichts von so viel
Bereitwilligkeit verspürte Redl nun doch Gewissensbisse. Das Mädchen
vertraute ihm, während er ihm den Tod der Mutter verschwieg, um an
Informationen zu kommen. Aber hätte er Julie jetzt mit der größten
Katastrophe in ihrem jungen Leben konfrontiert, so wäre es mit den
Infos sicher Essig gewesen.
20
HEISSINGFELDING am südlichen
Rand von Bad Hofgastein hatte sich in den letzten Jahrzehnten zu dem
gemausert, was für die Wiener der Bezirk Hietzing ist: eine Gegend für
angesehene Alteingesessene, für wohlhabende Zugezogene und soziale
Aufsteiger. Wer sich hier ein Haus leisten konnte, hatte es mehr oder
weniger geschafft.
Unter all den stattlichen
Anwesen von Managern, Steuerberatern, Anwälten, Ärzten, Maklern,
Bankern und Architekten fiel die Häuslschmied-Villa hinter dem Heiß-Hügel
nicht besonders auf, und trotzdem entdeckte Kotek schon von der Hügelkuppe
aus den gut in Schuss gehaltenen weißen Jugendstilbau. Zielsicher
dirigierte sie Jacobi dorthin.
Sie parkten den Audi vor der
Doppelgarage, die sich, obwohl wesentlich später gebaut, stilistisch
gut in das Gesamtensemble fügte.
Das Eingangsvordach, höchstens
drei Meter entfernt, hätten sie ohne Schirme nur aufgeweicht
erreicht. Die Intensität des Niederschlags nahm stetig zu, und da und
dort mischten sich bereits Schneekristalle unter die
Weitere Kostenlose Bücher