Doktor im Glück
wäre tot? Etliche Jahre Lebenskampf auf den Stationen eines Spitals haben schon Weit weitläufigere Jungen als meinen Cousin gewandelt. Als Student wäre er erstaunt gewesen, hätte ihm ein Mädel zugelächelt. Nun war er fast schon ein fertiger Arzt, und von allen Seiten wurde ihm zugelächelt, sogar von sehr hübschen Mädchen. Und jetzt konnte er sich auch nicht länger verhehlen, daß ihm dieses Weibsbild schauerlich auf die Nerven ging.
«Findest du auch wirklich genug Schlaf?» fuhr Dulcie fort. «Der Professor sagt, sieben Stunden sind das normale Minimum. Und wie steht's mit deiner Kost? Ich bin überzeugt, daß du nicht genug Kalorien zu dir nimmst. Prof. Parsons hat uns gestern darüber einen phantastischen Vortrag gehalten.»
«Sehr interessant, meine Liebe. Wie willst du den Nachmittag verbringen? Sollen wir in eine Kunstausstellung gehen?»
«Wenn es dich nicht zu sehr ermüdet. Nach der Art deines Gehens würde es mich nicht wundern, Miles, wenn du Plattfüße hast.»
Die Hochzeit sollte vierzehn Tage nach den Schlußprüfungen stattfinden, und ich grübelte bereits darüber nach, woher ich das Geld für einen Leihanzug nehmen sollte. Miles hatte ich seit Wochen nicht zu Gesicht bekommen, ich vermutete, daß er emsig für die Examina büffelte. Tatsächlich saß er meist in Mrs. Cappers guter Stube und bemühte sich verzweifelt, einen ehrenhaften Ausweg aus seinen Verpflichtungen zu finden, ohne Selbstmord begehen zu müssen. Später, nach meinen eigenen Erfahrungen in Porterhampton, vermochte ich mich voll Mitgefühl in seine Lage hineinzuversetzen. Wie er mir nachher erzählte, hatte er fast schon die Hand nach Murrells «Giftstoffen» ausgestreckt, als sich ihm, mit der blendenden Klarheit aller großen Inspirationen, die Lösung bot.
Miles faßte den Entschluß, absichtlich bei den Schlußprüfungen durchzufallen.
Selbst ich vermochte die Einfachheit dieses Planes zu würdigen. Miles konnte erst nach sechs Monaten wieder zur Prüfung antreten, v und bis dahin würde Schwester Crimpole das Warten wohl satt haben. Sie könnte meilenweit entfernt droben im Norden einen Schwesternposten bekommen haben. Sie könnte auch von einem Ambulanzwagen überfahren worden sein. Zumindest aber würde er sie nicht in genau sechs Wochen zum Altar führen müssen.
«Hallo!» rief Barefoot, von seinem Ausflug in den Chilterns heimkehrend. «Heut abend siehst du viel heiterer aus als sonst.»
Ich persönlich finde ja den Tag der Examina so wenig anziehend wie den Tag des Jüngsten Gerichts, aber Miles und Barefoot betraten ein paar Wochen später den Prüfungssaal ohne Wanken.
«Glückauf, Miles», flüsterte Barefoot, als sie sich an den Pulten
in einer Distanz niederließen, die das Abschreiben zu einer Höllenqual machen würde.
Mein Cousin lächelte. «Diesmal schaffst du's ohne meine Wünsche, Charlie.»
Miles erzählte mir, daß er in der Schriftlichen noch seinen Mann stand — sein in Mrs. Cappers guter Stube aufgespeichertes Wissen zurückzuhalten wäre ihn ebenso hart angekommen wie Schwester Crimpole zu heiraten. Außerdem bietet die klinische Prüfung weitaus mehr Gelegenheit für ein dramatisches Versagen, spielt sie sich doch unter den Augen des Examinators ab.
Als Miles einige Morgen später an das Bett des ihm zugeteilten Prüfungspatienten trat, fühlte er sich sowohl entschlossen wie gefaßt.
«Nun, mein Junge», begann der Examinator, der nach der für die Diagnose bemessenen Zeitspanne auftauchte, «was finden Sie an unserem Patienten nicht in Ordnung?»
«Leider, Sir», sagte Miles, «kann ich überhaupt keine Diagnose stellen.»
Der Examinator ergriff seine Hand.
«Meine herzlichsten Glückwünsche! Wir haben einen völlig normalen Mann ins Bett gelegt. Sie würden entsetzt sein, wenn Sie die eigenartigen Diagnosen zu hören bekämen, die mir den ganzen Vormittag serviert wurden. Mr. Miles Grimsdyke, nicht wahr? Das dachte ich mir. Nur ein Student von Ihren überdurchschnittlichen Fähigkeiten konnte unseren kleinen Betrug durchschauen. Ausgezeichnet, mein lieber Herr! Guten Tag.»
Der arme Miles stolperte auf die Straße hinaus, von einer fürchterlichen Erkenntnis erfaßt: nach all den Jahren, da er sich als akademischer Athlet bewährt, war es ihm überhaupt unmöglich, bei einer Prüfung durchzufallen. Wie betäubt wanderte er dahin und fragte sich, was er um alles in der Welt nun tun solle. Noch blieb ihm die mündliche Prüfung an diesem Nachmittag. Schon trug er sich halb
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